"Ohne Zuwanderung wären wir aufgeschmissen"

28.11.2024 - Lesezeit: 10 Minuten

Ein Arbeiter schiebt Paletten

Was kann das Handwerk tun gegen den Fachkräftemangel? Eine Option: Jobs mit Geflüchteten besetzen. Doch wie finden Zuwanderer*innen und Unternehmen möglichst schnell und erfolgreich zusammen? Antworten von zwei Vermittlerinnen der Arbeitsagentur Potsdam – und einem Handwerksbetrieb. 

Tobias und Kathleen Exner betreiben die Bäckerei Exner in dritter Generation. 240 Mitarbeiter*innen beschäftigt das Familienunternehmen in den 38 Backstuben und Cafés im Großraum Potsdam. Sie haben eigentlich nur ein Problem: „Wir suchen händeringend nach Personal“, sagt Kathleen Exner. Mehr als 20 Stellen könne sie von jetzt auf gleich besetzen. „Ohne Zuwanderung wären wir aufgeschmissen“, sagt die 42-Jährige. Schon heute stammt jeder dritte ihrer Mitarbeiter*innen nicht aus Deutschland.

Fachkräftemangel: Was sagen die Zahlen?

Jeder zweite Betrieb in Brandenburg hat der Handwerkskammer Potsdam zufolge Schwierigkeiten, Mitarbeiter*innen zu finden. Allein im Großraum Potsdam sind fast 400 Stellen im Handwerk unbesetzt. Dabei liegt die Lösung eigentlich nahe: Fast 1,5 Millionen mehr Zuwanderer als Auswanderer meldete das Statistische Bundesamt für 2022. Und die sind arbeitswillig: Zwei Drittel der Geflüchteten, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind, haben längst Arbeit gefunden. „Die Beschäftigungsquoten dieser Menschen weichen nicht mehr sehr stark von der Bevölkerung ab, die schon immer in Deutschland lebt“, sagt Alexandros Tassinopoulos, Geschäftsführer der Bundesagentur für Arbeit in Potsdam. 

Berliner-Volksbank-Mitglied Tobias und Kathleen Exner haben in den vergangenen Jahren 18 junge Syrer aus der ersten Flüchtlingswelle nach 2015 eingestellt. „Sie sind gut integriert und besitzen zum Teil sogar schon die deutsche Staatsbürgerschaft“, sagt Kathleen Exner. „Viele haben noch den Sprung ins Schulsystem geschafft und wollten unbedingt arbeiten, um hier bleiben zu dürfen.“

So funktioniert es: Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete

  • Asylbewerber mit Aufenthaltsgenehmigung benötigen eine Arbeitserlaubnis, die durch die Ausländerbehörde erteilt wird. Die Bundesagentur für Arbeit muss der Beschäftigung zustimmen.
  • Geflüchtete absolvieren als Integrationskurs einen Sprachkurs, der die wichtigsten Themen des täglichen Lebens behandelt. Diese Kurse sind Aufgabe des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Danach bewilligt die Bundesagentur auch Berufssprachkurse für fachspezifische Inhalte für das Berufsanerkennungsverfahren. 
  • Wo Geflüchtete ihre Zeugnisse und Berufsabschlüsse anerkennen lassen können, ist in jedem Bundesland anders organisiert. 
  • Um das Arbeitspotenzial von Migrantinnen zu stärken, fördert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit dem Programm MiA (Migrantinnen in Arbeit) Weiterbildungsmaßnahmen für Frauen.

Die Sprache bleibt eine Herausforderung

Anders als bei der Flüchtlingswelle 2015 handelt es sich bei den 1,2 Millionen Menschen, die seit 2022 aus der Ukraine gekommen sind, meistens um Mütter mit Kindern. Sie hoffen auf eine Rückkehr, weiß Beraterin Oksana Jungk. Etwa zwei Dutzend Zuwanderer, vor allem aus der Ukraine, betreut sie pro Woche und vermittelt sie an Betriebe. Jungk kam selbst vor 22 Jahren aus St. Petersburg nach Deutschland und hat erfolgreich ihren Weg gemacht. Woran hakt es heute? „Erfolgreiche Vermittlung geht nicht von heute auf morgen“, sagt Oksana Jungk. Zu viele Geflüchtete würden noch in Sprachkursen feststecken.

Das neue Jobturbo-Programm der Bundesregierung soll die Integration vereinfachen. Unternehmen können Geflüchtete einstellen, selbst wenn diese noch nicht perfekt Deutsch sprechen. „Wenn sie nicht gerade im direkten Kundenkontakt arbeiten, ist das auch kein Problem“, sagt Bäckereibetreiberin Kathleen Exner. Damit sie noch mehr Geflüchtete aus der Ukraine für ihr Unternehmen gewinnen kann, helfen ihre Mitarbeiter auch sprachlich bei der Integration.

Diese Unterstützung erhalten Sie als Unternehmer

  • MAG: Mit den Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung können Unternehmen berufsfachliche Kenntnisse eines Geflüchteten feststellen lassen. Das sechswöchige Programm muss bei der Agentur für Arbeit bzw. im Jobcenter beantragt werden. Fahrkosten, Kinderbetreuungskosten, bewilligte Sprach- oder Fachkurse werden übernommen.
  • EGZ: Den Eingliederungszuschuss für Geflüchtete können Unternehmen bei der Arbeitsagentur bzw. beim Jobcenter vor Beginn des Beschäftigungsverhältnisses beantragen. Bis zu zwölf Monate erhalten Unternehmen 50 Prozent des Arbeitgeberbruttos.
  • Ausbildungsprämie: Der Zuschuss pro Ausbildungsplatz beträgt 50 Prozent der Ausbildungsvergütung im ersten und 25 Prozent im zweiten Ausbildungsjahr.
  • AsA für Azubis: Ausbildungsbetriebe erhalten Unterstützung bei der Verwaltung, Organisation und Durchführung der Ausbildung oder der Einstiegsqualifizierung von Geflüchteten. 

Fachkräfte finden: Erfolg per Speed-Dating

Für Erfolgsgeschichten von Geflüchteten sorgt auch Adina Tröbner, Jungks Kollegin vom „Arbeitgeber-Service“. Die 44-jährige Juristin hält den Kontakt zu Unternehmen und sucht nach passenden Arbeitskräften für insgesamt 2.000 offene Stellen. „Große Unternehmen haben mehr Erfahrung mit der Integration von Geflüchteten“, sagt Tröbner. Sie hätten zudem Mitarbeiter*innen, die die Sprache sprechen und helfen können. Allerdings besteht die deutsche Unternehmenslandschaft nun mal eher aus kleineren Betrieben, die sich nicht um alles kümmern können. Also übernimmt Adina Tröbner, die als eine Art Headhunterin für Geflüchtete beispielsweise Job-Messen veranstaltet oder Speed-Datings organisiert. Bei einem solchen Speed-Dating hat es zwischen Valentyna Vysotska und Civan Ucar gefunkt. Vor dem Krieg in der Ukraine hatte die Ukrainerin einen eigenen Friseur-Salon in Kiew. Trotz ihrer überschaubaren Deutschkenntnisse erkannte Friseurmeister Ucar ihre fachlichen Qualitäten – und hat Valentyna Vysotska eingestellt.

Seit Beginn des Krieges hat die Bundesagentur immerhin 352 Geflüchtete aus der Ukraine in Berlin und Brandenburg im Handwerk unterbringen können. Die Zahl wäre noch höher, könnte Adina Tröbner mehr junge Geflüchtete zu einer Ausbildung motivieren. Zum Start des neuen Lehrjahrs meldeten Brandenburgs Handwerkskammern noch 1.700 unbesetzte Ausbildungsplätze in 70 Berufen, in Berlin sind es 700. Diese Lücken können die Geflüchteten allein nicht füllen, sagt Tröbner, außerdem: „wollen manche sofort Geld verdienen und nicht drei Jahre lang eine Ausbildung machen.“ 

Bäckerin Kathleen Exner hat in bald zehn vergangenen Jahren gute Erfahrungen mit Geflüchteten gemacht. Sie wünscht sich mehr Vertrauen vom Staat: „Wenn der Staat für jeden Geflüchteten, den wir einstellen, ein Jahr lang die Hälfte des Gehaltes übernehmen würde, bekommen wir den Rest schon selber hin.“

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