Wir werden einen neuen Mittelstand erleben
18.02.2021 - Lesezeit: 11 Minuten

Ein Gespräch mit dem Unternehmensberater Prof. Dr. h. c. Roland Berger aus München über die globalen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Wirtschaft, über neue Arbeitszeitmodelle und gute Perspektiven für die Zukunft.
Herr Professor Berger, nach 50 Jahren kontinuierlichen Wachstums gehört Ihr Unternehmen heute zu den führenden Anbietern globaler Top-Managementberatung. Vor diesem Hintergrund: Wie erleben Sie ganz persönlich die von Corona ausgelösten erdrutschartigen globalen Erschütterungen?
Am meisten um den Schlaf bringen mich die politischen Veränderungen auf dieser Welt: Der Protektionismus der USA und daraus resultierend der Handelskrieg zwischen den USA und China und leider auch zwischen den USA und Europa bzw. Deutschland. Das hat zu einer Entfremdung zwischen den USA und Europa geführt, obwohl beide sich dringend brauchen – wirtschaftlich, technologisch, politisch und auch militärisch. Dazu kommt die Uneinigkeit innerhalb der europäischen Union. Und zwar sowohl zwischen den östlichen und westlichen Mitgliedsländern als auch zwischen den nördlichen und südlichen. Global betrachtet ist auch die enorme Verschuldung im Süden der EU sowie in den USA und Japan besorgniserregend. Außerdem bereitet mir Sorge, dass wir auch in Deutschland uneinig sind und die Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland durch das Aufkommen von Populismus und AFD vertieft wird.
Positiv zu bewerten ist unsere Innovationskraft. Obwohl man fairerweise sagen muss, dass Europa noch hinter den USA und China zurückliegt. Insbesondere wenn es um Internettechnologien, Digitalisierung, Big-Data-Management und künstliche Intelligenz geht. Diese Technologien werden noch zu erheblichen Disruptionen in der Wirtschaft führen. Wir sollten uns darauf besinnen, Chancen zu nutzen und innovativ zu werden, indem wir die starke Stellung unserer Industrie zum Beispiel in den Bereichen Automobil- und Maschinenbau, Chemie, Medizintechnik weiter ausbauen.
Wie blicken Sie in die Zukunft? Müssen wir uns damit abfinden, dass Corona das „neue Normal“ wird? Und was bedeutet das für unsere private Lebenskultur, unsere Wirtschaft und unseren Status als „Exportweltmeister“?
Ich glaube, dass es zunächst ein „New Normal“ geben wird. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, wo Impfstoffe und Medikamente verfügbar sind. Für den Erfolg ist wichtig, dass mit den Impfungen eine kritische Masse von 60 bis 70 Prozent der Weltbevölkerung erreicht wird. Bis dahin ist Disziplin unverzichtbar: Anpassung an die jeweiligen Veränderungen und Risikosituationen, Einhaltung der Hygieneregeln und mehr. Was der privaten Lebenskultur zurzeit fehlt, sind attraktive Angebote in den Bereichen Sport, Unterhaltung und Kultur. Hier sind leider noch keine kurzfristigen Veränderungen in Sicht.
Zum Thema Exportweltmeister: Wir werden als Exportnation weiter vorn bleiben. Werden aber hinter China zurückfallen. Das Land wurde als erstes von der Pandemie getroffen und hat sie auch als erstes in den Griff bekommen. Inzwischen läuft die chinesische Industrie wieder weitgehend normal. In Deutschland wird der Export durch die schwache Erholung der Weltwirtschaft erst langsam wieder auf das alte Niveau zurückfinden. Die Wirtschaft in der EU wird 2020 um etwa 8 bis 15 Prozent einbrechen. Ähnliches gilt für die USA und Südamerika. Hier können wir sicherlich erst 2023 mit unseren Exporten wieder Boden gutmachen.
Drei Typen von Unternehmen werden als Gewinner aus der Corona-Krise hervorgehen: die innovativen Anbieter von Software für Videokonferenzen und andere IT-Systeme und die Innovationstreiber, die neue Geschäftsmodelle voranbringen. Klassische Branchen, wie zum Beispiel die Automobilindustrie, leiden zwar unter der Rezession, werden aber wieder erstarken, wenn es gelingt, Produktpalette, Geschäftsprozesse und Mitarbeiter auf Innovation zu trimmen und neue Technologien auf den Markt zu bringen. Klassische Verlierer werden die Reisebranche, also Fluggesellschaften, Gastronomie, Hotellerie, und der stationäre Einzelhandel sein. Ähnliche Erfahrungen haben wir ja schon im Golfkrieg 2 (1990/91) gemacht. Damals hat es drei Jahre gedauert, bis sich zum Beispiel die Lufthansa von dem Einbruch erholt hatte. Diesmal wird es eher länger dauern.
Brauchen wir ein neues Denken? Können wir überhaupt noch langfristig planen?
Wir brauchen mit Sicherheit ein neues Denken. Für die Zukunft der Unternehmen ist Flexibilität gegenüber Marktveränderungen das Wichtigste. Dabei geht es um die von außen induzierten Anpassungen. Im Arbeitsleben, aber auch bedingt durch den Wettbewerb. Und last but not least: Wir brauchen mehr Innovationen und schnellere Transformation! Zur Flexibilität gehört das Outsourcing von Wertschöpfung zur Reduzierung von Fertigungstiefe und Kapitalintensität. Stichwort: „Asset light“. Bestes Beispiel: Flixbus und Flixbahn. Diese Unternehmen bieten Bus- und Bahnreisen an, ohne einen eigenen Bus oder Zug zu besitzen. In so einer Situation, wie wir sie jetzt erleben, sollten Unternehmen auf Szenarioplanung setzen, um flexibel zu bleiben – in den Bereichen Produkt- und Produktionsplanung, Wertschöpfung, Mitarbeiter, Kunden usw. Schnelligkeit ist auch in anderen Bereichen wichtig: Beim Beobachten des Kundenverhaltens und auch im Unternehmen selbst, wenn es um neue Technologien und mehr Förderung der Mitarbeiter, neue Arbeitsmodelle usw. geht.

Roland Berger ist wohl der weltweit bekannteste deutsche Unternehmensberater. Das 1967 gegründete Beratungsunternehmen trägt noch immer seinen Namen, obwohl er sich längst aus dem operativen Business zurückgezogen hat. Großen Wert legt der Gründer auf die Feststellung, dass Roland Berger das einzige weltweit führende Beratungsunternehmen mit nicht angelsächsischen Wurzeln ist. Prof. Berger wurde in knapp 30 Sachverständigen-Kommissionen mehrerer Landes- und Bundesregierungen berufen. Er ist Mitglied diverser Aufsichtsräte und Beiräte nationaler und internationaler Unternehmen, Organisationen und Stiftungen. Die „Roland Berger Stiftung“ verleiht einen Preis für Menschenwürde und fördert begabte Jugendliche aus sozial benachteiligten Schichten. Seit 2015 unterstützt die Stiftung zudem unbegleitete Minderjährige, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen.
Wir haben seit Jahren gelernt, Globalisierung als „neue Freiheit“ zu begreifen. Ohne Grenzen für wirtschaftliche Expansion und internationalen Austausch in Forschung und Technologie. Mit allen Möglichkeiten für Urlaubsreisen rund um den Globus – ohne Rücksichtnahme auf fremde Kulturen und politische Systeme. Mit Blick in die Glaskugel: Was wird davon übrig bleiben?
Alles wird übrig bleiben – und mehr werden! Globalisierung wird nach der Rezession und den protektionistischen Bestrebungen einiger Länder weiterhin ein wichtiger Entwicklungsfaktor sein. Globalisierung ist wichtig, damit die internationalen Wertschöpfungsketten funktionieren, und trägt weltweit zur Steigerung des Wohlstands bei. Zu besserer Gesundheitsversorgung, gerechteren Bildungschancen und höherer Lebenserwartung. Eine aktuelle Prognos-Studie hat ermittelt, dass in den letzten 30 Jahren der Wohlstand in Japan pro Jahr und Einwohner um 1.700 Euro gewachsen ist, gefolgt von Irland, der Schweiz, Finnland und Israel, den Niederlanden und Deutschland mit über 1.100 Euro pro Kopf und Jahr. Relativ zum Bruttoinlandsprodukt ist das Einkommen pro Einwohner seit 1990 in China um 680 Prozent, in Südkorea um 373 Prozent, in den neuen EU-Ländern um bis zu 350 Prozent und in Deutschland um 142 Prozent gestiegen. Globalisierung ist als Wohlstandstreiber unverzichtbar. Und sie ist wichtiger Bestandteil des weltweiten Wissenszuwachses durch Ausbildung der Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern – etwa in dort neu entstehenden Fabriken. Globalisierung sorgt dafür, dass mehr Schulen, Bildungseinrichtungen und Universitäten entstehen. Wohlstand beschleunigt Bildung und reduziert die zu hohe Geburtenrate in den Entwicklungsländern.
Bekommt der 1896 von dem kanadischen Politiker George Eulas Foster geprägte Begriff „Splendid Isolation“ für uns nun eine ganz neue Bedeutung? Zum Beispiel beim Tourismus: Michelstadt und Müritzsee statt Mallorca und Malediven?
Vorübergehend wird das so sein. Das hängt mit der Pandemie zusammen, aber auch mit politischen Strömungen wie Nationalismus und Protektionismus. Ich bin mir aber sicher, dass wir bald wieder weltweit reisen, global Handel treiben und investieren werden. Menschen sind von Natur aus neugierig, lernwillig, innovativ und kreativ. Auch große Trends wie die weltweite Bevölkerungsentwicklung und die wachsende Migration werden uns dazu zwingen, wieder zu mehr Globalisierung zurückzukehren, über Grenzen hinaus zu denken, Handel zu treiben und zu investieren. Und es werden die neuen Technologien sein, die internationale Kommunikation und Zusammenarbeit fördern. „Splendid Isolation“ sehe ich als kurzfristiges Phänomen für zwei bis vier Jahre, danach nicht mehr.
Unternehmen empfehlen Sie einen „360-Grad-Checkup“ und ein „Performance-Programm“, um nach der Krise wieder durchzustarten. Was meinen Sie damit?
Zum „360-Grad-Check-up“ gehört alles: von der Strategie über innovative Investitionen, neue Produkte und produktivere Wertschöpfungsketten bis hin zu Innovationen, Prozessen, Mitarbeitertrainings und wettbewerbsfähigen Kosten. Vielleicht gibt es bald Airlines, die nach dem Flixbus-Modell funktionieren. Sie verfügen über Start- und Landerechte, Kundenbeziehungen, Vertrieb und Marke, andere Unternehmen stellen Flugzeuge und Piloten zur Verfügung. Wir müssen uns daran gewöhnen, alles infrage zu stellen. Performance-Programm heißt zunächst, das Unternehmen wettbewerbsfähig zu gestalten und dann den Wettbewerb zu übertreffen. Wichtig dabei: Flexibilität auf allen Stufen, auch bei den Strukturkosten und bei der Mitarbeiteraus- und -weiterbildung.
Sie rechnen für das dritte Quartal 2020 mit einem weltweit „spürbaren Aufschwung“, der von China angeführt wird. Woran machen Sie diese Prognose fest? Und wie viel Stabilität trauen Sie diesem Aufschwung zu?
Die Produktion in China läuft schon fast wieder normal. Die Wirtschaft in den USA, Indien und in Europa ist stark eingebrochen. Wir werden im dritten oder vierten Quartal wieder ein kleines Wachstum haben. Allerdings noch nicht auf dem Level von 2019. Vorausgesetzt, es gibt keine zweite Pandemiewelle, die wir mit einem neuen Lockdown beantworten müssen. Es hängt viel davon ab, wie viel Innovation, Investitionen und Mitarbeiterschulung wir uns heute leisten. Dann kann es gelingen, 2022/2023 wieder das Wirtschafts- und Wohlstandsniveau von 2019 zu erreichen.
Das weltweit einzigartige deutsche Wirtschaftsmodell eines robusten und innovativen Mittelstandes wurde in der Vergangenheit international immer wieder als besonders krisenfest gelobt. Kann Corona dieses Modell ins Wanken bringen?
Bei allen Unternehmen, die nicht solide finanziert, nachhaltig produktiv sind und keinen positiven Net-Cashflow generieren, wird es Ausfälle geben. Der klassische innovative und robuste deutsche Mittelstand – solide finanziert, technologisch spitze und mit wettbewerbsfähigen Kosten – hat alle Chancen. Es wird aber auch einen neuen Mittelstand geben. Das werden unsere Start-ups sein, die es in die kritische Größe schaffen und sich international aufstellen. Der „alte“ Mittelstand ist ja heute noch meist im Familienbesitz. Der neue Mittelstand wird wegen der Geschwindigkeit des technologischen Wandels und der Notwendigkeit zu schneller Internationalisierung eher an die Börse gehen. Ohne fremdes Eigenkapital werden diese Unternehmen nicht erfolgreich sein. Das gilt für alle Startups, die groß werden wollen oder müssen.
Wir haben den „alten“ Mittelstand und werden einen „neuen“ Mittelstand erleben, der in Sachen Kapitalisierung neue Wege geht. Viele Mittelständler sind Zulieferer für unsere Großindustrie. Sie werden sich technologisch neu erfinden. Und wir sollten nicht vergessen, dass wir in Deutschland viele weltmarktführende Mittelständler haben, die sich um ihre Kunden und ihre Mitarbeiter kümmern, fair sind zu ihren Lieferanten und ehrlich ihre Steuern zahlen. Und die noch dazu dem Gemeinwohl dienen und nicht nur dem Shareholder-Value.