Modernisierung im Zeitraffer: Zehn Thesen zu Lerneffekten in Corona-Zeiten
28.05.2020 - Lesezeit: 6 Minuten
Was zuvor als unmöglich galt, wird jetzt millionenfach einfach gemacht: Home-Office, Führung auf Distanz, Teamverantwortlichkeit. Wird sich die Arbeitswelt dauerhaft verändern? Dr. Josephine Hofmann vom Fraunhofer IAO schaut auf vorläufige Erkenntnisse und Lerneffekte des Arbeitens in Corona-Zeiten.
Ist eigentlich gerade Halbzeit? Oder sind wir erst ein minimales Stück gegangen? Wann können wir zurück ins Büro und müssen wir das eigentlich noch? Je länger Corona andauert, desto wichtiger wird der Blick auf die Folgewirkungen dieser Zeit. Neue Arbeitsformen haben sich quasi über Nacht etabliert. Was lernen wir daraus? Dr. Josephine Hofmann leitet das Team „Zusammenarbeit und Führung“ am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart. In ihrem Blog stellt sie zehn Thesen zu Home-Office in Corona-Zeiten auf, die wir gekürzt und zusammengefasst hier vorstellen.
1. Ansprechbarkeit: top. Souveräne Zeitgestaltung: herausfordernd!
„Ich bin nicht erreichbar“ – diese Ausrede zieht gerade nicht. Waren „vor Corona“ längere Abwesenheitszeiten häufig die Regel, sind wir im Home-Office und ohne Dienstreisen quasi immer verfügbar. Womit die Befürchtung widerlegt zu sein scheint, mit flexiblen Arbeitsorten- und -zeiten könnte sich Mitarbeitende zu leicht aus dem Blick ihrer Vorgesetzten nehmen. Führung kann also sehr wohl über Distanz gut gelingen. Oftmals problematisch jedoch: die Arbeitsverdichtung. Hier könnten gute alte Tipps des individuellen Zeitmanagements noch einmal aus der Schublade geholt werden.
2. Staus und Pendelzeiten haben wichtige Funktionen
Pendelzeiten gestalten den Übergang von Arbeit ins Private und umgekehrt. Sie dienen nicht selten als Ventil zur Verarbeitung des tagsüber Erlebten. Zwar sind wir froh, so manches an fremdbestimmter Lebenszeit nicht zu vergeuden. Doch nicht jedem gelingt der Übergang vom Beruflichen ins Private so schnell wie der Gang von Arbeitszimmer und Abendbrottisch tatsächlich andauert. Wahrscheinlich gibt es jetzt auch deshalb gefühlt doppelt so viele joggende Mitmenschen.
3. Rituale zur Begrüßung, Eröffnung und Verabschiedung haben ihren Sinn
Nach zahlreichen Videokonferenzen wächst die Erkenntnis, wie wertvoll bereits die Umfeldinformationen bei Besuchen von Geschäftspartnern sind – vom Eintritt ins Gebäude bis hin zur Begrüßung und Versorgung mit einem Getränk. In Zeiten von Corona wird man nicht selten von einer Sekunde auf die andere in fremde virtuelle Räume und Begegnungen „gebeamt“. Und übrigens auch genauso schnell wieder „entlassen“. Spezifische Signale zur Gestaltung der Kommunikationssituation gehen latent verloren. Nicht selten sind sie wichtige Anknüpfungspunkte für vertiefende Gespräche.
4. „Alternativlosigkeit“ macht uns erfrischend unperfekt
„Minimum Viable Products“ ist ein Konzept aus der Welt der agilen Projektarbeit. Der Begriff steht für die Haltung, eine Aufgabe lieber schnell mit einer 80-Prozent-Version anzugehen, als für das Perfekte das Doppelte an Zeit zu brauchen. Die Tatsache, dass die Alternative etwa Nichtstun und Umsatzausfall heißt, gibt uns allen offenbar eine deutlich erhöhte innere Erlaubnis sowie Fehlertoleranz, Mut und Experimentierfreude für ganz neue Wege.
5. Neue Talente kommen zum Vorschein
So manche Kollegen fahren unter den restriktiven Rahmenbedingungen digitaler Arbeit zur Höchstform auf. Sie erweisen sich als begnadete Online-Moderatoren, sie coachen Mitarbeitende virtuell, machen pragmatische Prozessumgestaltungsvorschläge und beweisen Gespür für Stimmungen auch „auf Distanz“. Sie schaffen es, über neue Kanäle sehr persönliche Beziehungen aufzubauen, Mitarbeiter-Onboarding virtuell abzuwickeln und Geschäfte anzubahnen. Ein Riesenpotenzial!
6. Arbeiten in Corona-Zeiten wirkt als Digitalisierungsbeschleuniger
Wer erlebt hat, wie gut es ist, geordnete digitale Ablagen zu haben, mit Kollaborationstools umgehen zu können und Informationen auch ohne klassische hierarchische Filterprozesse unkompliziert zu teilen, trägt die damit verbundenen Qualifizierungs- und Umgewöhnungsaufwände bereitwilliger mit. Die Erfahrungen der letzten Wochen haben die Sinnhaftigkeit digitalen Arbeitens deutlich untermauert. Das kann und wird entsprechende Investitionen der Zukunft befördern. Auch die Wertschätzung für IT-Kollegen dürfte – mit Recht – deutlich gestiegen sein, die häufig in kürzester Zeit Unglaubliches geleistet haben.
7. Arbeiten in Corona-Zeiten könnte aber auch den Arbeitsplatzexport beschleunigen
Qualifizierte Arbeit ohne persönliche Präsenz lässt auch Verlagerungsgedanken in Länder mit geringeren Lohnkosten oder größerer Nähe zu lokalen Märkten wieder aktueller werden. Gepaart mit einer weitergehenden Digitalisierung der Prozesse und dem Einsatz von KI, zeigen sich potenziell tiefgreifende Veränderungen der internationalen Arbeitsteilung. Hier werden wir genau hinsehen müssen.
8. Der Blick auf den Zweck und die Ausgestaltung des Büros wird geschärft
Nein, Arbeiten in Corona-Zeiten heißt nicht automatisch, dass künftig Büros an Bedeutung verlieren. Doch sie werden weniger als Behälter von persönlich zugeordneten Einzelarbeitsplätzen gesehen, sondern vielmehr als Kommunikations-, Kollaborations- und Begegnungsorte. Ihr wichtigstes Ziel ist Zusammenarbeit, agiles und produktives Miteinander. Insbesondere die Identitätsstiftung und Zugehörigkeit spielen dabei eine wichtige Rolle.
9: Mehr Selbstorganisation und Teamverantwortlichkeit
Die räumliche Distanz bringt, bei aller gleichzeitig möglichen Kommunikationsintensität, ein höheres Maß an Selbstverantwortlichkeit und Selbstorganisation mit sich. Das kann durchaus als anstrengend und in Teilen als belastend empfunden werden. Aber es entspricht dem längerfristigen Trend zu mehr „Loslassen“ und zu Prinzipien von teambezogener, gemeinsamer Verantwortlichkeit und Mitgestaltung. Beides sind organisatorische Stärken und Design-Prinzipien, die insgesamt die Resilienz und Krisenfestigkeit der Gesamtorganisation stärken werden.
10. Arbeiten, Wohnen und Leben passen gut unter einen Hut
Konzepte wohnortnaher Produktion, von Satellitenbüros, Coworking-Spaces sind nicht neu, sondern haben sich in der Folge digitaler und flexibler Arbeit schon länger in Wissenschaft und Praxis entwickelt. Allerdings werden auch sie durch die Erfahrungen der letzten Monate nochmals deutlich an Relevanz gewinnen und mit neuen Möglichkeitsräumen argumentieren können.