Wie ein Berliner Start-up schon 2022 mit KI autonomes Fahren ermöglichen will
30.11.2021 - Lesezeit: 8 Minuten
In der Mitte des Hangars steht die Zukunft – ein Mercedes Sprinter, mit dem autonomes Fahren möglich werden soll, aufgerüstet mit Videokameras und einem Arsenal an Sensoren. Drinnen hocken Elisabeth, Abdullah, Arvind und Zeeshan – die Hochleistungs-HP-Rechner auf ihrem Schoß ringen nach Luft, sie müssen noch die drei neuen LIDAR-Sensoren, 20.000 Euro das Stück, kalibrieren. Vom Armaturenbrett grüßt ein Sticker „Bitte Fahrtenbuch führen“. In zwei Tagen kommt ein aufblasbares Auto aus China. Roy Uhlmann hat es für 1.000 Euro bestellt. Die Künstliche Intelligenz (KI) des Sprinters soll es in verschiedenen Situationen erkennen, ihm ausweichen und selbst über das 85 Hektar große Gelände fahren können.
Geht es nach Roy Uhlmann, dann transportieren solche autonom fahrenden Kleinbusse Menschen schon im kommenden Jahr durch Brandenburg – ohne Fahrer. Überall dort, wo sich Busverbindungen mit Fahrer nicht mehr rechnen. Dafür hat er mit seinem Mit-Gründer Adam Bahlke 2017 in Berlin Motor AI auf den Weg gebracht, ein Start-up, das das renommierte Wired-Magazin kürzlich erst zu einem der 50 hottesten in Europa gekürt hat und das gerade erst zu den acht Finalisten auf dem Dubai World Congress for self-driving Transport zählte. Ex-Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries hält 0,25 Prozent der Anteile, und das Forschungsministerium hat ein Projekt von Motor AI, dem Fraunhofer-Institut und der Uni Magdeburg zur Erforschung Künstlicher Intelligenz mit den Methoden kognitiver Neurowissenschaften mit einer Million Euro gefördert. Uhlmanns Technologie könnte die erste sein, die Autos auf deutschen Straßen wirklich selbst fahren lässt.
Neues Gesetz für autonomes Fahren
Die Bundesregierung hatte ihm im Mai schon mal den Weg frei geräumt, als der Bundestag grünes Licht für das Gesetz für autonomes Fahren gegeben hat. Es ist eines der ersten Gesetze weltweit, die selbstfahrende Autos auf öffentlichen Straßen erlauben. Ausgerechnet das technologiescheue Deutschland läutet damit eine Zeit ein, in der wir fahrend auf der Autobahn übernachten können. Eine Zeit, in der es weniger Unfälle gibt, weil der Computer keinen Sekundenschlaf hält. Auch wenn fast jeder zweite Deutsche in jüngsten Umfragen skeptisch ist, wenn ihm Computer jetzt auch noch die Freude am Fahren nehmen und er sich der Technik ausliefern soll: Für die großen Autobauer wie VW und Daimler, für Zulieferer wie Schaeffler oder Bosch, für Google und Apple, aber auch für Start-ups wie Motor AI öffnet sich ein Milliardenmarkt.
Die Unternehmensberatung PwC rechnet schon mit einem Marktpotenzial von 500 Milliarden Dollar für die Robotaxi-Dienste. Schon 2030 könnten 15 Prozent des Konzern-Umsatzes mit Mobilitätsdiensten gemacht werden, prophezeite kürzlich VW-Boss Herbert Diess. Die Automanager wie bei VW schwärmen schon von der „Demokratisierung der Mobilität". Auch Behinderte und nicht mehr fahrtaugliche alte Menschen könnten künftig ein Robotaxi benutzen.
Künstliche Intelligenz ermöglicht selbstfahrende Kleinbusse
In gut 40 deutschen Städten und Gemeinden pendeln schon jetzt selbstfahrende Kleinbusse langsam und fast lautlos durch die Gegend. In Hamburg, Berlin, Frankfurt oder auch im kleinen Bad Birnbach sind die Robotaxis im Einsatz. Noch fahren sie im Testbetrieb. Ab dem kommenden Jahr können Pendel-Busse oder Gütertransporte im Regelbetrieb in den 401 deutschen Landkreisen auf öffentlichen Straßen ohne Fahrer unterwegs sein, zumindest, wenn ein Mensch über eine Leitzentrale noch eingreifen kann. „Man muss sich das wie beim VAR, dem Videobeweis beim Fußball, vorstellen, bei dem der Videoschiedsrichter aus Köln ins Spiel eingreift, wenn etwas schief geht“, sagt Roy Uhlmann. Level 4, heißt das im Fachjargon der Autobranche. Diese Autos fahren zwar autonom, aber der Mensch kann sie noch lenken.
Level 5 ist das höchste Level, in dem der Mensch zum Passagier wird. Das vollautonome Fahren ohne Lenksäule. Es zu erreichen, ist eine Herkulesaufgabe. Die Autos sollen in Zukunft ja alle möglichen Verkehrsszenarien beherrschen, und zwar überall auf der Welt. Und die Systeme müssen nicht nur verkehrssicher, sondern auch datensicher entwickelt sein, um mögliche Cyber-Angriffe abwehren zu können.
Level 5 ist das, was Adam Bahlke testet. Inzwischen sind alle Sensoren in Position, die Autoatrappe aus China ist aufgeblasen und blockiert eine Spur der alten Landebahn. Adam fährt die Software hoch und gibt den Startbefehl. Vorsichtig setzt sich der Sprinter in Bewegung, wie ein scheues Reh, das sich langsam aus der Böschung wagt. Im ersten Moment ist man geneigt, nach dem Fahrer zu suchen oder die Handbremse zu ziehen. Dann aber beschleunigt der Van, 15 km/h, 20, 40.
Der Wettbewerb um die beste Technologie für das autonome Fahren ist weltweit in vollem Gange. Vorerst testen die Autohersteller noch die Robotaxis von morgen – im Schulterschluss mit dem Silicon Valley. Daimler kooperiert mit Nvidia, VW arbeitet mit dem US-Start-up Argo AI zusammen und betreibt Pilotprojekte in mehreren US-Städten. Für 2026 plant der Konzern unter dem Projekt „Trinity" eine Elektro-Limousine mit Level 4. „Autonomes Fahren wird unsere Industrie wie nichts zuvor verändern", sagte VW-Chef Diess dieses Jahr auf der Münchner Automesse. Im Vergleich dazu sei die Umstellung auf die E-Autos geradezu spielend einfach gewesen.
Getrieben werden auch dieses Mal alle von Elon Musk und Tesla: Musks Fahrzeuge sollen schon ab diesem Jahr sämtliche automatisierte Fahrfunktionen rein auf Basis von Kameradaten ermöglichen – ganz ohne Radarsensoren und ohne die teuren Lidar-Sensoren. Stattdessen wertet ein mächtiges und millionenfach trainiertes neuronales Netz die Kamerabilder aus. Auf teure Hardware könnte damit ebenso verzichtet werden, wie auf hochauflösendes Kartenmaterial. Das spart Kosten und macht das autonome Fahren überall auf der Welt einsetzbar.
Autonomes Fahren im Kleinbus schon auf der Teststrecke
Während sich alle großen Hersteller seit Jahren damit beschäftigen, ihre deep learning-Maschinen auf die Wahrnehmung der Umgebung zu trainieren und ihren Autos beizubringen, wie sie im Verkehr zu entscheiden haben, hat Uhlmanns Sprinter nicht Milliarden Kilometer auf dem Buckel. Nach fünf Minuten hat man sich daran gewöhnt, dass sein Sprinter von selbst fährt. Mit geschlossenen Augen spürt man keinen Unterschied, auch nicht, als sich der Wagen auf das Hindernis zubewegt und es elegant umfährt. Seine Software muss nicht so viel trainieren wie Googles Waymo. Sie lernt nicht auswendig, das Auto soll so fahren wie ein Mensch, der nach 30 Stunden Fahrschule auch unzählige Situationen im Straßenverkehr reproduzieren kann, weil er kognitiv unterwegs ist, sich also zusammenreimen kann, dass es keine gute Idee ist, mit 90 km/h bei Starkregen in eine 50-Grad-Kurve zu fahren. Angeblich könne Motor AI eine Septilliarde Verkehrssituationen erfassen. Das ist eine Eins mit 45 Nullen.
Im Lockdown hat Uhlmann bei Clubhouse den Verkehrsminister von Mecklenburg-Vorpommern kennengelernt. Der Minister hat ihm hinterher telefoniert. Noch dieses Jahr stattet Uhlmanns Firma eine Pilotstrecke in Parchim und auf Rügen mit seiner Technologie aus. Und auch in Brandenburg könnte es bald selbstfahrende Rufbusse geben, die mit Motor AIs Software arbeiten. „Wir haben die Fühler nach dem ÖPNV ausgestreckt“, sagt Uhlmann. Gerade erst haben ihm seine Investoren zusätzliche zwei Millionen Euro überwiesen. Bald schon wolle Uhlmann in Tegel, auf dem alten Flughafen, eine neue Teststrecke eröffnen, sagt er. „Jetzt kann es richtig losgehen.“