Eine Welt mit vielen Zukünften

11.05.2021 - Lesezeit: 10 Minuten

Dr. Christian Neuhaus
Foto Dr. Christian Neuhaus (Fotograf Marcel Schwickerath)

Die Zukunft hat Menschen schon immer fasziniert. An der Freien Universität Berlin lernen Studierende, wie man sie erforscht. Dr. Christian Neuhaus ist Lehrbeauftragter im Masterstudiengang Zukunftsforschung, sein Fachgebiet ist das Einsatzfeld Wirtschaft. Unser Gespräch findet im großen Hörsaal der Freien Universität statt, die wegen des Lockdowns im Winter 2020/21 wie leergefegt ist – ein Szenario, das auch Zukunftsforscher in dieser Breite nicht erarbeitet hatten. Für Christian Neuhaus ein anschaulicher Beleg für die These, dass Zukunft immer offen ist – und in vielen Varianten denkbar.

Herr Dr. Neuhaus, wie lässt sich Zukunft erforschen, wo sie einem doch immer entwischt? Beim Überprüfen ist sie schon wieder Vergangenheit.

Dr. Christian Neuhaus: Zukunft existiert nicht, man kann sie nicht befragen oder messen, das ist richtig. Alles, was wir haben, sind Vorstellungen von Zukunft, die ich Zukunftsbilder nenne. Ein Zukunftsforscher arbeitet daran, Zukunftsbilder in einer systematischen, reflektierten und aufgeklärten Weise zu erzeugen. Wir alle machen uns permanent Bilder von dem, was kommen könnte – aber eher in einer verkürzten, erratischen Weise. Zukunftsforscher haben gelernt, das professionell zu tun, um später als hauptamtliche Beratende in Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft tätig zu sein.

Bei welchen Themen ist es sinnvoll, Zukunftsbilder herzustellen?

Die Themen sind vielfältig, zum Beispiel Zukunft der Arbeit, Globalisierung, Auswirkungen des Klimawandels, Technikfolgenabschätzung – aber auch langfristige Strategieplanung in Unternehmen. Die Ergebnisse unserer Forschung machen mögliche Zukünfte sichtbar und stellen sie zur Diskussion. Der wesentliche Unterschied zum Erstellen eines einzelnen Leitbildes oder einer Prognose ist, dass wir von einer offenen Zukunft ausgehen. Deshalb entwerfen wir multiple Szenarien, die breite gesellschaftliche Fragestellungen berücksichtigen.

Warum sprechen Sie im Plural von Zukünften?

Das ist ein Begriff, über den man vielleicht erstmal stolpert, weil man denkt, es gibt nur eine Zukunft. Doch das stimmt nicht. Es gibt in jeder Situation verschiedene Zukünfte. Schon Ihre Zukunft und meine Zukunft unterscheiden sich, weil unser jeweiliger Betrachtungsstandpunkt ein anderer ist.

Für Zukünfte lassen sich unendlich viele Annahmen treffen. Haben Sie Schwerpunkte?

Die Leitfragen sind: Was ist das Problem und wer soll – orientiert durch Zukunftsbilder – handeln? Ist es ein Szenario für die Bundeskanzlerin? Für ein Reisebüro? Oder für einen Automobilhersteller, der beispielsweise ein neues Fahrzeug auf den Markt bringen möchte? Die Fragen lauten immer: wozu – und für wen?

Am Beispiel Automobilhersteller: Welche Disziplinen beziehen Sie für Zukunftsszenarien mit ein?

Insbesondere naturwissenschaftlich-technische, ökonomische, psychologische und sozialwissenschaftliche Disziplinen. Wir fragen nach den Einsatzzwecken und Käufergruppen. In welcher Welt leben sie heute – und was wirkt auf sie in den kommenden zehn Jahren ein? Politisch, ökologisch, wirtschaftlich? Danach arbeiten wir mehrere Rahmenszenarien aus, also drei oder vier plausible Zukünfte für diese Produktfrage. Und schließlich muss es darum gehen, diese Bilder in die strategische Diskussion im Unternehmen zu bringen, damit dieses seine Entscheidungen für die Produktentwicklung treffen kann.

Dr. Christian Neuhaus
Dr. Christian Neuhaus

Dr. Christian Neuhaus ist Dipl.-Kommunikationswirt (HdK Berlin) und Dipl.-Kaufmann (TU Berlin). Promoviert hat er zum Thema „Zukunft im Management“ an der Freien Universität Berlin, Institut für Management. Er ist beratend in Zukunftsforschung und Strategieentwicklung für Unternehmen und andere Organisationen tätig. Bis 2015 arbeitete er bei der Daimler AG, Research & Development, Society and Technology Research Group. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Umfeldanalysen, Zukunftsszenarien und Strategieprozesse für Stadt- und Raumentwicklung, Luftfahrtindustrie, Energiewirtschaft, Medienorganisationen und Konsumgüter-Handel.

Wenn man sich die vergangenen zehn Jahre anschaut – mit immer schnelleren Veränderungen oder Ereignissen wie die Pandemie – wie weit ist es noch möglich, zuverlässige Szenarien zu entwickeln?

Das Jahr 2020 illustriert, dass sich Dinge sehr viel schneller ändern können, als wir das normalerweise erfahren. Es kann immer etwas passieren, das schnell große Wirkung hat. Das wird in der Forschung als Wild Cards, als plötzlich und unerwartet auftretende, gravierende Ereignisse bezeichnet. Selbst ohne sie sind zehn Jahre eine lange Zeit. Es kann sein, dass sich die Zukunft irgendwo zwischen den formulierten Szenarien bewegt. Aber wenn wir einigermaßen gute Arbeit leisten, fangen wir einen großen Korridor von Möglichkeiten ein und sorgen dafür, dass unsere Adressaten in der Lage sind, auch auf andere geänderte Umstände zu reagieren.

Hat die Pandemie Ihre Zunft kalt erwischt?

Wir haben zuvor in einer Welt gelebt, in der die Gesellschaft Infektionskrankheiten hingenommen hat, etwa die jährliche Grippewelle. Oder Tuberkulose, die lange Zeit verschwunden war und dann wiederauftauchte. In den klassischen Listen von Wild Cards, also von gravierenden, wenig wahrscheinlichen Ereignissen, kamen immer schon pandemische Infektionsgeschichten vor. Und sehr wohl hat es auch Krisenszenarien und Notfallübungen dazu gegeben – neben vielen anderen über Naturkatastrophen, klimatische Veränderungen und Wirtschaftskrisen. Aber ehrlicherweise muss man sagen, dass es in dieser Breite nicht systematisch durchgespielt worden war.

Nehmen diese Ereignisse zu, und wird die Zukunft unvorhersehbarer?

Das weiß ich gar nicht, denken Sie an die Weltfinanzkrise 2008 oder an 1989. Das war so unvorhergesehen wie Weniges. Ich bin mit solchen die Gegenwart überhöhenden Aussagen vorsichtig. Auch, weil es zu meiner Grundausstattung in diesem Beruf gehört, zu wissen, dass ständig überraschende Dinge auftauchen. Zukunft ist letzten Endes nicht nur etwas, das wir nicht sehen können – sie existiert einfach nicht. Sie ergibt sich von heute auf morgen. Normalerweise aber nicht mit Ereignissen, die so weite Kreise ziehen, wie die jetzige Pandemie.

Faktenresistente Menschen entwerfen – nicht nur – zu Corona ihre eigenen Zukunftsbilder und Erklärungen, was sagen Sie dazu?

Grundsätzlich versuchen Menschen, für Ereignisse eine sinnvolle Erklärung zu finden. Das kann geerdet oder unter irrationalen Annahmen geschehen. Bis hin zu uralten Mechanismen, die Menschen schon seit Jahrtausenden anwenden, also dass es zwingende Gründe und Leute geben muss, die eine Situation herbeigeführt haben. Eigentlich das gleiche Motiv, mit dem sich Menschen vor einigen tausend Jahren auch die Götter vorstellten. Diskutierte man früher zu fünft in der Kneipe, verhandeln heute 50, 500 oder 5.000 Leute in einem virtuellen Raum Dinge in einer Art, die früher außerhalb des Dorfes nie stattgefunden hat. Das sind Phänomene, die unsere Kommunikation, die letztlich Substanz unserer Gesellschaft ist, in einer nicht unerheblichen Weise beeinflussen.

War Zukunft früher überschaubarer?

In den frühen 1960er Jahren herrschte eine große Technikeuphorie und der Glaube, dass es nicht lange dauern würde, bis Menschen so ziemlich alles unter Kontrolle haben. Auf der anderen Seite gab es klare internationale Konfliktlinien. Die Welt in Westdeutschland war von dem Grundvertrauen geprägt, dass es immer besser wird. Ich denke an die Aussage von Helmut Schmidt 1972, dass fünf Prozent Inflation besser zu ertragen seien als fünf Prozent Arbeitslosigkeit, womit er andeutete, dass sich das eine mit dem anderen beheben lasse. Die Logik dahinter war, dass wir die Instrumente haben, mit denen wir die wirtschaftliche Entwicklung steuern können. Heute wissen wir, das nächste Ding kommt um die Ecke, wir wissen aber nicht was es ist. Das Bewusstsein ist gewachsen, dass wir nicht alles unter Kontrolle halten können und dass viele technischen Lösungen Folgen haben. Teilweise ist heute die Reflexion über diese Folgen so ausgeprägt, dass darüber manche Entscheidungen sehr lange dauern.

Was lehren Sie, und was können Studierende mit ihrem Master in Zukunftsforschung tun?

Mein Feld ist Zukunftsforschung mit dem Einsatzfeld Wirtschaft. Die Frage ist hier: Wo und wie werden in Unternehmen langfristig bindende Entscheidungen gefällt, denn erst langfristig bindende Pläne machen die Zukunft relevant. Alle strategischen, alle produktionstechnischen Entscheidungen haben ausgedehnte Prozessen zur Folge, deren Erfolg von Rahmenbedingungen abhängt. Bekomme ich das Personal, das Kapital, die Erlaubnisse? Erhalte ich die gesellschaftliche Legitimität, die ich brauche? Wohin entwickelt sich die Gesellschaft? Studierende lernen, verschiedene Varianten von Zukunft vorstellbar zu machen und die Bilder davon in die Gegenwart zu holen. Sie kennen die methodischen Grundlagen, haben die Werkzeuge.

Zukunftsforschung Masterstudiengang, Freie Uni Berlin

Der interdisziplinäre Masterstudiengang Zukunftsforschung ist im deutschsprachigen Raum einzigartig. Seit 2010 lernen Studierende die Grundlagen und Methoden zur Erforschung, Konstruktion und Reflexion von Zukunftsvorstellungen in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Lehrende sind neben Professoren und Professorinnen und Mitarbeitenden unterschiedlicher Fachbereiche der Freien Universität qualifizierte Personen aus anwendungsorientierten Forschungseinrichtungen sowie Unternehmen und Beratungseinrichtungen. Neben traditionell verwendeten Methoden wie der Delphi-Methode, der Szenariotechnik, der Leitbildanalyse, Roadmaps und anderen Verfahren wie Zukunftswerkstatt oder Design Thinking, greift die Zukunftsforschung auf das Methodenrepertoire sämtlicher sozial-, natur- und computerwissenschaftlicher Disziplinen zurück.

Sind Sie selbst beratend tätig?

Potenziell berate ich alle die, die Fragen zum aufgeklärten Umgang mit Zukunft haben, und sich auf langfristig bindende Entscheidungen vorbereiten wollen. Wer seinen oder ihren Umgang mit Zukunftsfragen auf der Höhe der Diskussion etwas professioneller aufstellen möchte, für den oder die stehe ich zur Verfügung. Meine Hauptaktivitäten bestehen allerdings mittlerweile in der Lehre – schon länger an der Freien Universität, gelegentlich an der ETH Zürich und neuerdings an einer Hochschule in Österreich.

Sie verwenden häufig die Vokabel „aufgeklärt“. Gegen wen wollen Sie sich abgrenzen?

„Aufklärung“ ist mir wichtig, weil ich versuche, ein Bild von Zukunftsforschung zu vermitteln, das frei von magischem Denken ist, welches da heißt: ich kann ausrechnen, wie es wird. Die richtigen Experten werden mir schon sagen, wie es kommt. Könnte man die Zukunft vorhersagen, würde man zum Beispiel unternehmerisch gar nicht tätig werden können. Unternehmertum beruht darauf, zu gestalten, dafür ist die Offenheit der Zukunft Bedingung.

Sind Ihre Absolventen gefragte Arbeitskräfte?

Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforscher arbeiten in Versicherungen oder in Forschungseinrichtungen, andere in Innovationsabteilungen in Unternehmen im Marketing oder in der Produktionsplanung. In der Politik arbeiten sie an der Vorbereitung von langfristigen Entscheidungen beispielsweise im Bereich Sicherheit mit. Den hauptamtlichen Zukunftsforscher gibt es als Stellenbeschreibung in der Regel nicht. Aber es gibt viele Tätigkeiten, die seit Alters her damit befasst sind, über langfristige Folgen nachzudenken, langfristige Pläne zu entwickeln, langfristige Potenziale zu beurteilen oder Risikosituationen einzuschätzen. Insgesamt hat man erkannt, dass es mit der Kontrollierbarkeit nicht allzu weit her ist, sondern dass die Zukunft offen ist. Früher hatte man gesagt: Wird schon irgendwie gehen. Heute wächst der Bedarf an Orientierung.