„Wir müssen uns verabschieden vom großen Zampano“
08.02.2024 - Lesezeit: 5 Minuten

Familienunternehmen klären die Nachfolgefrage am liebsten innerhalb der Familie. Doch viele Töchter und Söhne haben keine Lust auf den Chefsessel: Sie verfolgen andere Pläne. Wie sich beides verbinden lässt, dafür hat Günter Faltin, früher Professor für Entrepreneurship an der FU Berlin, überraschende Vorschläge.
Die Tochter hat Kunstgeschichte studiert, der Sohn ist vielleicht Altenpfleger. Und plötzlich steht die Frage im Raum, wer die Nachfolge des Familienbetriebs übernimmt. Beide haben keine Lust. Warum, Herr Professor Faltin, sollten die Kinder trotzdem ernsthaft darüber nachdenken, die Nachfolge anzutreten?
Was viele potenzielle Nachfolger abschreckt, ist die Aussicht, die Firma unverändert weiterführen zu sollen. Der bisherige Chef hat dem Unternehmen seinen Stempel aufgedrückt. Es ist nur bedingt attraktiv, in diese Fußstapfen treten zu sollen. Aber das muss ja auch niemand!
Was ist die Alternative? Alles anders machen – mit einem Background in Kunstgeschichte oder als Altenpfleger?
Die Kunden eines Unternehmens wissen, was sie an dieser Firma schätzen. Was diesen Kern ausmacht und worin der spezifische Mehrwert besteht, das muss ich als Nachfolger herausfinden. Dann kann ich um diesen Kern herum das Unternehmen neu aufbauen, nach meinen Vorstellungen. Gerade ein nicht-ökonomischer Blick auf ein Unternehmen kann neue Sichtachsen eröffnen.
Wie kann ich Vorstellungen entwickeln, wie die Firma aussehen könnte, wenn ich Kunstgeschichte statt Betriebswirtschaft studiert habe?
Entscheidend ist, den Blickwinkel zu verändern. Viele Menschen denken sich ein Unternehmen als Gebilde aus Räumen, Arbeitsplätzen und Mitarbeitern, die ihre Aufgaben erledigen. Wer diese scheinbare Selbstverständlichkeit hinterfragt, stellt sich plötzlich ganz andere Fragen: Welche Räume braucht das Unternehmen, welche Mitarbeiter, wie werden Aufgaben erledigt? Nehmen wir als Beispiel die IT: Brauche ich eine eigene IT-Abteilung? Delegiere ich das an einen Dienstleister? Gehe ich in die Cloud und kombiniere das mit einer eigenen, entsprechend mageren IT-Abteilung? Anderes Beispiel: Social Media. Wer an seinem Employer Branding arbeiten will, um attraktiv für Bewerber zu sein, muss das nicht selbst tun. Das lässt sich wunderbar delegieren an Agenturen, die den ganzen Tag nichts anderes tun und die entsprechende Professionalität mitbringen.
Delegieren statt selbstmachen?
Das ist der entscheidende Perspektivwechsel. Alle Bereiche in der Wirtschaft sind heute hochgradig arbeitsteilig. Nur der Unternehmer soll als Generalist alles können. Davon ist jeder Mensch überfordert. Dabei können wir längst aus dem „Baukasten“ aus Komponenten die für uns geeigneten Module auswählen. An solchen Komponenten können Sie dutzende haben. Wir müssen uns verabschieden vom Bild des großen Zampano, der den ganzen Laden schmeißt. Heute kann die unternehmerische Aufgabe auch darin bestehen, die passenden Module zu finden und anschließend das Zusammenspiel der Komponenten zu koordinieren und zu kontrollieren. Im Grunde ist es der Gedanke, das Prinzip der Arbeitsteilung auch auf das Feld der Unternehmensführung zu übertragen.
Und weil sie so viel delegieren, übernehmen die Kunsthistorikerin oder der Altenpfleger dann doch den Chefsessel?
Wer so gar kein Interesse entwickeln kann, ein Unternehmen zu führen, sollte es lassen. Aber bevor diese resignative Position eingenommen wird, sollte man überlegen, einen Manager anzuwerben, der sich im Chefposten dieses Unternehmens wohlfühlt. Als Eigentümer oder Eigentümerin sitze ich dann im Aufsichtsrat, schaue mit einem frischen unvoreingenommenen Blick auf das Geschäftsleben und nehme nicht alles für gegeben und selbstverständlich, was da passiert. Als Nachfolger bin ich der Kopf, der den Rahmen und die Wertmaßstäbe setzt – aber ich muss nicht das Tagesgeschäft leiten. Ich kann mich sogar weitgehend herausziehen und weiter als Altenpfleger oder Kunsthistorikerin arbeiten – das Unternehmen bleibt trotzdem in der Familie. In angelsächsischen Ländern sieht man das durchaus als Bereicherung der Unternehmensstrategie.
Wird Nachfolge sexy, wenn die Erkenntnis ankommt: „Ach, ich muss das gar nicht weitermachen wie bisher!“?
Das habe ich mehrfach erlebt. Da habe ich in Runden, bei denen es um die Unternehmensnachfolge ging, lange zugehört und dann gesagt: „Sie gehen wie selbstverständlich davon aus, dass Sie den Laden selbst leiten und organisieren müssen. Sie glauben, Sie können es nicht und wollen es deshalb nicht. Aber kein Mensch sagt, dass Sie selbst der Manager sein müssen.“ Antwort war immer ein erstauntes: „Ach so! Das geht auch anders?“ Das waren Erben, die wussten nicht weiter. Sie wussten nur: Einer von uns muss sich aufopfern und die Leitung eines ungeliebten Unternehmens übernehmen.
Nachfolger*innen können also mit Konventionen brechen – einfach, weil sie die gar nicht kennen?
Genau. Solche Nachfolger blicken aus einer gewissen Distanz auf das Unternehmen. Sie haben ganz andere Bezugssysteme – und die können sie kreativ einbringen. Jeder redet von Interdisziplinarität und kaum jemand setzt sie um. Dabei kann genau dieser Ansatz dazu führen, dass die Firma wesentlich erfolgreicher wird als wenn einfach in den ausgetretenen Pfaden weitergelaufen wird.

Prof. Dr. Günter Faltin, Jahrgang 1944, baute den Arbeitsbereich Entrepreneurship an der Freien Universität Berlin auf. Vor fast 40 Jahren gründete er die Teekampagne – eine Erfolgsgeschichte – und begleitet heute Unternehmensgründer als Business Angel. 2010 verlieh der Bundespräsident ihm als Pionier des Entrepreneurship-Gedankens in Deutschland den Bundesverdienstorden. Sein Buch „Kopf schlägt Kapital" ist ein Bestseller, der in acht Sprachen übersetzt wurde. Faltin lebt und arbeitet in Berlin und im thailändischen Chiang Mai.
Der nächste Entrepreneurship Summit, organisiert von Faltins Stiftung Entrepreneurship, wird am 12. und 13. Oktober 2024 im Henry-Ford-Bau der FU Berlin stattfinden. Ehrengast wird Friedensnobelpreisträger Prof. Dr. Mohammad Yunus sein.
Im Zukunftsdialog: Nachfolge ist ein sensibles Thema, mit dem sich Unternehmer*innen eher ungern beschäftigen. Das rächt sich, wenn entscheidende Weichen nicht mehr gestellt werden können. Deshalb starten die Spezialist*innen der Berliner Volksbank einen Zukunftsdialog mit Unternehmer*innen, um fünf bis zehn, besser noch 15 Jahre an Vorlauf zu nutzen.