Interview mit Hendrik Streeck: „Wer sich krank fühlt, sollte zu Hause bleiben“
27.10.2022 - Lesezeit: 5 Minuten
Corona ist noch längst nicht ausgestanden, im Gegenteil: Die Fallzahlen steigen. Was können Arbeitgeber:innen jetzt tun, um ihre Mitarbeiter:innen zu schützen und gleichzeitig den Betrieb aufrecht zu erhalten? Tipps dafür hat Thomas Killius, Bereichsleiter Firmenkunden der Berliner Volksbank, für den Business Spot bei Prof. Dr. Hendrik Streeck erfragt. Der bekannte Virologe leitet seit 2019 das Institut für Virologie am Uniklinikum Bonn und ist seit 2021 Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung.
Thomas Killius: Corona wird uns auch den kommenden Winter über begleiten. Wie können sich Unternehmen darauf vorbereiten?
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Wir werden uns daran gewöhnen dürfen, dass die Corona-Fallzahlen in Herbst und Winter steigen – und damit auch die Zahl der Krankheitsfälle in Unternehmen. Damit stehen wir vor der Herausforderung, festzulegen, wie wir damit in der Zukunft umgehen. Setzen wir auf strenge Vorgaben durch die Gesetzgeber oder auf die Eigenverantwortung des Einzelnen?
Thomas Killius: Was schlagen Sie vor, strenge Vorgaben oder mehr Eigenverantwortung?
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Sich impfen und testen zu lassen und im Zweifelsfall eine Maske zu tragen – das ist auf jeden Fall sinnvoll. Aber verpflichtende tägliche Tests in jeder Firma sind nur bedingt zielführend. Ich halte es hier für effektiver, an die Verantwortung jedes und jeder einzelnen immer wieder zu appellieren. Arbeitgeber sollten ihre Mitarbeiter motivieren, zu Hause zu bleiben, wenn sie sich krank fühlen. Die Symptome müssen dabei nicht unbedingt auf Corona hindeuten, doch auch ein grippaler Infekt ist nicht zu unterschätzen – und ebenfalls ansteckend.
Thomas Killius: Auch gegen grippale Infekte schützen Masken …
Prof. Dr. Hendrik Streeck: … und die Grippe kehrt zurück! Die Corona-Debatte hat leider auch dafür gesorgt, dass die Gefahren durch die Grippe unterschätzt werden. Deshalb kann ich Arbeitgeber nur ermuntern, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – vor allem, wenn die ihren 60. Geburtstag bereits gefeiert haben – eine Grippe-Impfung anzubieten.
Thomas Killius: Also auf alle Fälle eine Maske tragen?
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Grundsätzlich gilt: Wer sich angeschlagen fühlt und trotzdem meint, nicht zu Hause bleiben zu können, sollte auf jeden Fall eine Maske tragen. Diese Masken schützen effektiv, auch wenn die Erfahrung zeigt: weniger effektiv als möglich wäre. Das liegt nicht an den Masken, sondern daran, wie sie getragen werden.
Thomas Killius: Wir tragen Masken falsch?
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Sie sollten Mund und Nase bedecken, das ist allgemein bekannt. Dass die Wirkung von Masken als Schutz überschätzt wird, liegt weniger am Wie als am Wo: Wir verzichten an den falschen Orten auf das Maskentragen. Der Virus verbreitet sich gern dort, wo viele Menschen zusammenkommen und die Belüftung schlecht ist. Bei FFP2-Masken ist dies ein besonderer Fall, da diese auch noch falsch getragen werden können. Wenn sie nicht richtig getragen werden, gaukeln sie Schutz vor, wo keiner oder nur ein niedriger ist.
Thomas Killius: Also sind in den Betrieben die Kantinen ein Hot Spot: Viele Menschen an einem Ort, die nicht mal Maske tragen können, wenn sie essen und trinken.
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Das stimmt dann, wenn es an der Belüftung hapert. Problematischer als Kantinen sind allerdings kleine Pausenräume, in denen die Luft steht und Menschen sich mitunter eng an eng drängen. Wenn wir schon von Hot Spots reden: In Toiletten hakt es häufig an ausreichender Belüftung, da stehen die Aerosole etwas länger. Und die Erfahrung zeigt: In Toiletten wird die Maske meist abgenommen.
Thomas Killius: Was kann ich als Arbeitgeber tun, um meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf solche Gefahren aufmerksam zu machen?
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Immer wieder plädieren: Wer sich krank fühlt, sollte zu Hause bleiben. Und appellieren an die Verantwortung jedes und jeder einzelnen gegenüber dem Arbeitgeber und vor allem gegenüber den Kollegen: Steckt bitte niemanden an! Mit Antrieb, der von innen kommt, lässt sich mehr erreichen als mit Vorschriften, die von außen auferlegt werden. Diese Verantwortung gilt natürlich nicht nur während der Arbeitszeit: Rund 70 Prozent der Infektionen passieren in der Freizeit.
Thomas Killius: Von rigiden Vorschriften raten Sie also ab?
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Wir haben in zweieinhalb, bald drei Jahren gelernt, mit dem Virus umzugehen. Wir wissen, wie ein verantwortungsvoller Umgang aussieht und ebenso, welches Verhalten leichtfertig ist. Und: Die Menschen haben derzeit andere Probleme, viele haben beispielsweise Angst, im Winter im Kalten zu sitzen – das ist gefühlt ein wesentlich bedrohlicheres Szenario. Wie wir angemessen mit Corona umgehen, das wissen wir mittlerweile. Da braucht es keine neuen Vorschriften.
Thomas Killius: Und im Frühling 2023 fängt dann das „normale“ Leben wieder an und die Maske landet im Müll?
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Tatsächlich werden wir uns wohl auf einen Winterreifen-Sommerreifen-Modus einstellen müssen. Im Frühjahr werden die Infektionszahlen sinken, im Herbst darauf wieder steigen. Das ist so und das bleibt auch so. Welche Infektionswellen – ob im Herbst 2023 oder wann auch immer – auf uns zukommen, das weiß keiner. Aber der Griff zur Maske, der wird normal.
Der Experte
Prof. Dr. med. Hendrik Streeck wurde 1977 in Göttingen geboren. Nach dem Zivildienst in Münster studierte er zunächst Musikwissenschaften und Betriebswirtschaftslehre, wechselte nach der Zwischenprüfung aber in die Humanmedizin und studierte an der Charité in Berlin.
In 2007 promovierte an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und absolvierte von 2006 bis 2009 einen Postdoctoral Fellowship am Partner AIDS Research Center. 2009 wurde er zum Assistenzprofessor an der Ragon Institute of MGH, MIT und Harvard sowie Assistant Immunologist am Massachusetts General Hospital berufen. Im Jahr 2012 wurde er zum Leiter der Immunologie des US Military HIV Research Program (MHRP) ernannt und war zeitgleich Assistenzprofessor für ‚Emerging Infectious Diseases‘ an der Uniformed Services University of Health Sciences in Washington DC sowie an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health. Im März 2015 folgte er dem Ruf der Universität Duisburg-Essen und leitete bis 2019 das Institut für HIV-Forschung. 2019 übernahm er die Leitung des Instituts für Virologie sowie des Deutschen Zentrums für HIV & AIDS an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn.
Als Facharzt für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt für sein Engagement und pragmatische Stimme in der COVID-19 Bekämpfung und Beratung der Bundes- und Landesregierung. Er wurde 2019 zum Kuratoriumsvorsitzender der deutschen AIDS Stiftung gewählt.