Marcel Fratzscher: „Wir müssen Verantwortung übernehmen für unser Handeln“
06.10.2022 - Lesezeit: 8 Minuten
„Wirtschaftlicher Neustart: Wie kann die Transformation gelingen?“ Diese Frage beantwortete Marcel Fratzscher in einem Vortrag, zu dem wir Führungskräfte, Unternehmer:innen und Entscheider:innen eingeladen hatten. Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin und eine der einflussreichsten Stimmen, wenn es um wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen geht. Thomas Killius, Bereichsleiter Firmenkunden der Berliner Volksbank, nutzte die Gelegenheit für ein Interview für den Business Spot:
Thomas Killius: Alle Welt redet über Transformation, Herr Prof. Fratzscher, doch die mittelständischen Unternehmen haben dringendere Sorgen: Sie finden keine Leute, kommen wegen der Lieferengpässe nicht an dringend benötigtes Material und leiden zudem an den rasant gestiegenen Energiepreisen.
Prof. Marcel Fratzscher: Darin sehe ich keinen Widerspruch, ganz im Gegenteil. Unternehmen brauchen jetzt kurzfristige Unterstützung, das ist klar, zugleich brauchen sie eine Perspektive. Beides muss zusammen gedacht werden. Auf Dauer werden Unternehmen die aktuellen Probleme nur lösen, wenn sie langfristig denken. Wenn es an Fachkräften fehlt, was gibt es an Alternativen? Wenn es Engpässe bei Material gibt: Wie kann ich klug neue Lieferketten aufbauen? Wenn die Energiepreise durch die Decke gehen: Wie mache ich mich unabhängiger von fossilen Energieträgern? Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Antworten auf diese Fragen sind komplex und es braucht Zeit, sie umzusetzen. Aber indem diese Fragen gestellt werden und nach Antworten gesucht wird, hat die Transformation bereits begonnen.
Thomas Killius: Wer zu sehr auf Sicht fährt, verliert also die Perspektive?
Prof. Marcel Fratzscher: Unternehmen dürfen sich nicht zu sehr von ihren aktuellen Herausforderungen vereinnahmen lassen. Wichtig ist der Blick nach vorn: Wie entwickelt sich die Welt in den nächsten fünf bis zehn Jahren weiter? Wie entwickeln wir uns in diesem Zeitraum weiter?
Thomas Killius: Werden die Unternehmen die Probleme von heute – Fachkräftemangel, Engpässe, hohe Energiepreise – die nächsten fünf bis zehn Jahre weiterhin begleiten?
Prof. Marcel Fratzscher: Zum Teil werden sie sich sogar verstärken, etwa der Fachkräftemangel. Wenn in den nächsten zehn Jahren immer mehr Arbeitskräfte aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, fehlen sie in den Unternehmen. Also muss ich dafür sorgen, dass die Menschen in meinem Unternehmen produktiver arbeiten, etwa indem ich Arbeit anders organisiere, indem ich effiziente und damit bessere Prozesse einführen. Oder indem Aufgaben delegiert werden an Maschinen. Oder – dritte Option – indem ich bestimmte Tätigkeiten outsource. Damit sind wir bei der Globalisierung.
Thomas Killius: Die Globalisierung steht aufgrund der stockenden Versorgungsströme derzeit in der Kritik. Viele deutsche Unternehmen denken darüber nach, bestimmte Aufgaben zurückzuverlagern nach Deutschland oder zumindest in die Europäische Union.
Prof. Marcel Fratzscher: Das halte ich für die größte Falle, in die man tappen kann. Bei Medikamenten oder Nahrungsmittel kann ich den Impuls nachvollziehen, sich von Abhängigkeiten zu lösen. Aber als Trend wäre dieses sogenannte Reshoring kontraproduktiv. Dafür gibt es einen einfachen Grund: die Kosten. Was für drei Euro pro Stunde in Vietnam hergestellt werden kann, würde in Steglitz eher 30 Euro kosten – wer will und kann das bezahlen? Außerdem fehlen in Steglitz wie im Rest von Deutschland die dafür benötigten Arbeitskräfte. Es gibt also keine sinnvolle Alternative zu globalisierten Warenströmen.
Thomas Killius: Das ist derzeit – um das Stichwort „Lieferengpässe“ wieder aufzugreifen – eine eher unpopuläre Sichtweise. Warum halten Sie die Globalisierung für alternativlos?
Prof. Marcel Fratzscher: In den vergangenen drei Jahren haben wir erlebt, wie anfällig die globalen Warenströme bei Krisen sind. Und ich bin mir sicher, dass wir künftig mehr Krisen erleben werden, dazu politische Konflikte und Naturkatastrophen. Doch eine Abkehr von globalisierten Wirtschaftsströmen kann nicht die Lösung sein. Zielführender ist es, wenn Unternehmen sich breiter aufstellen, um sich gegen Risiken abzusichern. Es ist zu gefährlich, alles auf eine Karte – also einen Standort – zu setzen. Stellen Sie sich vor, Sie holen Ihre Produktion komplett zurück nach Deutschland – das plötzlich von einer Naturkatastrophe getroffen wird. Und plötzlich geht gar nichts mehr. Das wäre viel zu riskant. Deshalb ist es wichtig, sich breit aufzustellen, um besser gegen Krisen und Schocks gewappnet zu sein.
Thomas Killius: Die aktuellste Krise für Unternehmen wie für Verbraucher sind die rasant gestiegenen Energiepreise. Jetzt hat sich die Bundesregierung dazu durchgerungen, die Gaspreise zu deckeln. Ist das der richtige Weg?
Prof. Marcel Fratzscher: Die Richtung stimmt. Die Gaspreisbremse ist aus meiner Sicht sinnvoller als die vorher geplante Gasumlage, die Unternehmen wie Verbraucher zusätzlich belastet hätte. Noch besser als der Deckel wären aus meiner Sicht zielgenaue Direktzahlungen an Bedürftige gewesen. Jetzt wirkt eher das Prinzip „Gießkanne“. Auch wenn ich die Gaspreisbremse als Wissenschaftler für die „Second best“-Lösung halte, als Pragmatiker sage ich: Sie ist realistisch und das wohl umsetzbarste Instrument.
Thomas Killius: Nun ließe sich argumentieren, je stärker die Energiepreise steigen, desto offener werden die Menschen für die notwendige ökologische Transformation.
Prof. Marcel Fratzscher: Der Sinn der ökologischen Transformation besteht ja nicht darin, sich masochistisch zu geißeln. Es ist den Verbrauchern und auch den Unternehmen nicht zuzumuten, plötzlich das Fünf- oder Sechsfache für ihren Strom zahlen zu müssen. Wenn sie doppelt so viel zahlen müssen, ist das immer noch eine harte Keule. Die Menschen leiden schon genug, da muss man nicht noch einen drauf setzen, um einen Wandel herbeizuführen.
Thomas Killius: Bleibt damit die Transformation weiterhin ein Projekt für „später mal“? Ich entsinne mich daran, wie die Medien vom Durchbruch der Elektromobilität sprachen und bei den Autokonzernen weiterhin fleißig Benziner konzipiert und gebaut wurden, weil: Die Nachfrage war da und sorgte für beachtliche Margen. Wer will sich schon ändern, wenn es doch gut läuft?
Prof. Marcel Fratzscher: Dieses Denken gibt es nicht nur bei Automobilkonzernen. Aber sehen wir der Realität ins Auge: Die ökologische Transformation ist kein „Projekt“ oder „Trend“. Es geht darum, unsere Existenz als Menschheit auf diesem Planeten zu retten. Derzeit laufen wir mit vollem Tempo in die Katastrophe. Und das muss nicht sein: Lasst uns zumindest die Schäden begrenzen!
Thomas Killius: Was müssen wir tun, um die Katastrophe zu verhindern?
Prof. Marcel Fratzscher: Verantwortung übernehmen für unser Handeln. Das betrifft jeden einzelnen von uns als Verbraucher. Das betrifft den Staat, der Entwicklungen lenkt. Und es betrifft die Unternehmen selbst. Wenn in den Preis für ein Auto auch die Folgekosten etwa für die Umwelt, Gesundheit und Infrastruktur einfließen würden, sähe vieles anders aus. Dasselbe gilt für Fleisch: Wir alle ignorieren die Folgekosten – bis wir sie konkret merken. Und an diesem Punkt sind wir jetzt angekommen.
Thomas Killius: Wenn ich als Unternehmer meine Verantwortung wahrnehmen will, wie fange ich an? Ich kann ja nicht von Jetzt auf Gleich mein Geschäftsmodell umstülpen …
Prof. Marcel Fratzscher: Das ist auch für viele nicht nötig. Der erste Schritt ist, sich zu fragen: Wie wird die für mich relevante Welt in fünf bis zehn Jahren aussehen? Wo will ich hin in diesem Zeitraum? Und wie komme ich da hin? So überlebenswichtig eine sofortige Reaktion auf Probleme und Krisen ist: Es braucht langfristige Ansätze, um eben auch langfristig erfolgreich zu sein. Denn die Frage lässt sich auch umformulieren: „Was muss ich tun, damit mein Unternehmen in fünf Jahren überhaupt noch existiert?“
Thomas Killius: Wie können Banken ihren Unternehmenskunden bei dieser Transformation unterstützen?
Prof. Marcel Fratzscher: Banken übernehmen eine wichtige Aufgabe, denn sie finanzieren ihre Unternehmenskunden. Damit sie diese Kunden bei ihrer Transformation unterstützen können, brauchen sie ebenso den Weitblick wie die Unternehmen. Das bedeutet: Sie müssen die Chancen und Risiken der Transformation verstehen. Wenn also ein Kunde auf sie zugeht und sagt: „Ich versuche jetzt was total Verrücktes“, dann muss die Bank verstehen, dass die Idee ziemlich clever und zukunftsweisend sein könnte. Gerade das deutsche Finanzsystem mit seinen genossenschaftlichen Banken hat da einen Vorteil, denn diese Banken sind dicht dran an ihren Kunden. Das sorgt für Verständnis – fürs Geschäftsmodell und dafür, wie es in eine erfolgreiche Zukunft transformiert werden kann.
Der Experte
Marcel Fratzscher ist Wissenschaftler, Autor und Kolumnist zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist u. a. Mitglied des High-level Advisory Board der Vereinten Nationen zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs), Mitglied des Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums und Mitglied des Kuratoriums der Hertie School of Governance.
Seine inhaltliche Arbeit fokussiert sich auf Themen der Makroökonomie und Finanzmärkte, der Ungleichheit, der Globalisierung und Integration Europas. Er ist Kolumnist bei Zeit Online und veröffentlicht regelmäßig Kommentare in deutschen und internationalen Medien wie der Financial Times und Project Syndicate.
Im März 2022 ist sein neues Buch „Geld oder Leben – Wie unser irrationales Verhältnis zum Geld unsere Gesellschaft spaltet“ erschienen, das mit lang tradierten Mythen in unserem Umgang mit Geld – mit Sparen, Schulden, Inflation und Zinsen – aufräumt und eine Analyse für künftige Finanzrisiken, Vorsorge und Vermögensbildung darlegt. Seine vorherigen Bücher „Die Deutschland Illusion“, „Verteilungskampf – Warum Deutschland immer ungleicher wird“, „The Germany Illusion“ und „Die neue Aufklärung – Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Krise“ fokussieren sich auf die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft und Deutschlands Rolle in Europa und in der Welt.