Markus Gürne: „Druck erzeugt Veränderung“
15.01.2025 - Lesezeit: 10 Minuten

Deutsche Unternehmen schauen skeptisch in die Zukunft, während der DAX neue Höchstmarken knackt. Wie beides zusammenhängt und welche Aufgaben deshalb auf die nächste Bundesregierung zukommen, erzählt Börsenexperte Markus Gürne.
Viele deutschen Unternehmen gehen skeptisch ins neue Jahr, während gleichzeitig der DAX über 20.000 Punkte steigt. Wie passt das zusammen?
Markus Gürne: Die Skepsis der Unternehmen ist verständlich. Auf den ersten Blick hängt sie eng zusammen mit den Problemen, die sie am Standort Deutschland haben. Dabei geht es um Bürokratie – da sind wir gut drin – und es geht um Kosten, sowohl für Arbeitskräfte als auch für Energie. Dazu kommt als Problem die mangelnde Nachfrage, in Deutschland ebenso wie in unseren wichtigsten Märkten.
Und wo stecken die Probleme auf den zweiten Blick?
Die Gesetzmäßigkeiten, wie die globale Wirtschaft betrieben wird, ändern sich. Das setzt den deutschen Unternehmen besonders stark zu. Ihr Erfolg beruht seit Jahrzehnten darauf, dass ihre erstklassigen Waren und Güter global nachgefragt sind. Die Welt als offener Marktplatz – von diesem Geschäftsmodell hat Deutschland so stark profitiert wie kein anderes Land. Doch diesen offenen Marktplatz gibt es nicht mehr, die Welt ändert sich. Die globalen Handelsströme fließen längst nicht mehr ungehindert, und das bedroht den Kern des deutschen Geschäftsmodells.
Weil andere Länder ihre Märkte, beispielsweise durch Zölle, verstärkt abschotten?
Das gehört auch dazu, allerdings ist der Wandel viel tiefgreifender. Dahinter steckt der industriepolitische Wunsch, die eigene Wirtschaft zu stärken und sich unabhängiger von Importen zu machen. Besonders auffällig ist dieses Vorgehen in den USA und in China: Beide Staaten haben jahrzehntelang in neue Technologien investiert. Der Erfolg gibt ihnen recht. Im liberal-kapitalistischen USA ist das Silicon Valley entstanden, das staatskapitalistische China ist bei Halbleitern ganz vorn und hat – quasi aus dem Nichts! – den weltweit größten Markt für Elektro-Autos geschaffen.
Während Deutschland den Trend zu E-Autos verschlafen hat?
Als gebürtiger Stuttgarter bin ich in einer Autostadt groß geworden. Der Erfolg der deutschen Industrie war für mich immer zugleich der Erfolg der Autoindustrie. Und diese Erfolge sind ja tatsächlich beeindruckend. Allerdings sind wir als Industrienation offenkundig darüber zu selbstzufrieden geworden und haben Warnzeichen ignoriert. Das holt uns jetzt ein und sorgt für wenig zielführende Debatten. Was nützen die besten Verbrennerautos der Welt, wenn kaum jemand diese Autos noch haben will? Wir müssen unsere Einstellung ändern und uns fragen: Wie sieht das Auto der Zukunft aus, was wird weltweit nachgefragt?
Diese Frage treibt die deutschen Autobauer doch schon seit Jahren um …
… während in der Öffentlichkeit – und auch in der Politik! – Debatten geführt werden, ob Deutschland nicht doch am Verbrenner festhalten sollte. Wir sollten pragmatischer denken – und handeln. Wer bei Chinas Autobauern unterwegs ist, bekommt viel Lob zu hören: „Ihr Deutschen baut das perfekte Auto!“ Diesem Lob folgt allerdings regelmäßig der Nachsatz: „Allerdings bauen wir überhaupt keine Autos.“
Wie bitte? Elektroautos sind keine Autos?
Dahinter steckt ein Perspektivwechsel. Die Chinesen verstehen E-Autos in erster Linie als Technologieträger. Wie gut die von A nach B fahren, ist dabei zweitrangig. Wichtiger sind die Technologien, die dabei erprobt und eingesetzt werden. Die sollen nämlich nicht nur bei Autos, sondern auch in anderen Kontexten – nicht zuletzt militärischen – genutzt werden. In China steckt hinter der Entwicklung und Weiterentwicklung von Elektroautos ein ganz anderes Mindset.
Das muss deutsche Autobauer ja nicht davon abhalten, technologisch überlegene Elektroautos zu bauen.
Das wird schwieriger, denn sie sind zeitlich ziemlich hinten dran. Dazu kommt: China hat den Zugriff sowohl auf Rohstoffe als auch auf notwendige Technologien und scheut sich nicht, beides als ökonomische Waffe einzusetzen. Warum sollten sie ihren technologischen Vorsprung auch freiwillig wieder hergeben? Zudem setzt die deutsche Autoindustrie bei Elektromobilität vor allem auf große und teure Statusautos. Was fehlt, sind kleine und erschwingliche E-Autos. Die werden kommen, aber ich sage schon jetzt voraus: Gebaut werden die nicht in Deutschland, sondern anderswo in Europa, wo die Lohnkosten geringer sind.
Was im Umkehrschluss heißt: In Deutschland sind die Lohnkosten zu hoch?
Deutschland ist ein guter Wirtschaftsstandort, das ist unbestritten. Die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen sind gut, auch im juristischen Bereich. Deutschland ist ein guter Wirtschafts-, aber kein guter Produktionsstandort. Das liegt an den Kosten für Arbeitskräfte und für Energie, und das liegt an der Bürokratie. Das alles engt ein, sorgt für mangelnde Flexibilität …
… und vielleicht dafür, dass deutsche Unternehmen ins Ausland verlagern? Donald Trump hat angekündigt, als US-Präsident durchaus ausländische Unternehmen willkommen zu heißen – wenn sie in den USA produzieren.
Das Startsignal dafür hat der scheidende US-Präsident Joe Biden mit seinem Inflation Reduction Act gegeben. Ziel dieses IRA war es weniger, die Inflation zu senken, als neue Technologien zu fördern. Daraufhin haben sich viele nicht-amerikanische Unternehmen, auch deutsche, in den USA angesiedelt. Gute Startbedingungen dank des IRA, dazu noch Subventionen und deutlich geringere Energiekosten? „Natürlich gehen wir da hin!“, haben sich viele deutsche Unternehmen gesagt. Das beantwortet übrigens auch die Frage, warum der DAX 40 steigt: 80 Prozent dieser Unternehmen machen gute Gewinne – nur eben nicht in Deutschland.
Treiben Unternehmen, die ihre Produktion auslagern, damit die De-Industrialisierung Deutschlands voran?
Derzeit wird vor allem diskutiert, wie wir bestehende Arbeitsplätze in Deutschland erhalten können. Das wird schwierig, weil – wie gesagt – Deutschland ein schwieriger Produktionsstandort ist. Vielleicht brauchen wir auch in dieser Frage einen Perspektivwechsel. Statt das Bestehende festzuhalten, könnten wir uns darauf konzentrieren, wo künftig neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Und wo können wir neue Arbeitsplätze schaffen?
In der nachhaltigen Transformation liegt das Potenzial für Wachstum. Wenn wir die Ökologie mit der Ökonomie verknüpfen, können wir neue Technologien entwickeln und neue Märkte erobern. Nehmen wir „grünen Stahl“ als Beispiel: Heute ist der preislich nicht konkurrenzfähig, aber wenn wir jetzt in grünen Stahl investieren, sind wir in zehn oder zwanzig Jahren der Technologieführer.
Wer sollte investieren: die deutschen Unternehmen oder die deutsche Politik?
Die USA und China zeigen, wie mit staatlichen Investitionen neue Technologien entwickelt werden, die irgendwann marktbeherrschend sind. Daran sollten wir uns ein Vorbild nehmen. Deutschland ist reich. Es sollte diesen Reichtum nutzen, um jetzt die Weichen für eine erfolgreiche wirtschaftliche Zukunft zu stellen.
Die deutsche Politik ist also gefordert.
Eigentlich gefordert wäre die Europäische Union, doch schnelle Reaktionen sind von ihr nicht zu erwarten. Dabei ist das eigentlich ein Witz: Wirtschaftlich ist die Europäische Union eine globale Macht, wie alle Daten zeigen. Die EU hat so viel Geld, das man sich nur fragen kann: Warum setzen wir das Geld nicht ein, um unsere Wirtschaft dauerhaft und langfristig zu stärken? Wovor haben wir eigentlich Angst?
Wenn die EU weitgehend ausfällt: Was kann die deutsche Politik tun, um den Standort Deutschland zu stärken?
Weniger Bürokratie wäre hilfreich, das steht außer Frage. Ebenso wichtig wären verlässliche Strukturen. Derzeit werden jeden Monat neue Ideen platziert, die diskutiert und selten umgesetzt werden. Da wäre mehr Verbindlichkeit wünschenswert, denn ohne Verlässlichkeit kann kein Unternehmen planen.
Was wäre Ihr Wunsch an die neue Bundesregierung?
Deutschland braucht einen verlässlichen Rahmen für die Wirtschafts- und Finanzpolitik, ebenso für die Außen- und Sicherheitspolitik. Wir müssen wissen, was wir wollen – und es dann auch konsequent umsetzen. Im Moment wird vor allem geredet und wir glauben, uns diese wenig fruchtbaren Debatten leisten zu können. Denn noch läuft es ja irgendwie mit der Wirtschaft, noch können wir uns gemütlich in der Komfortzone einrichten.
Mit diesem „noch“ könnte es bald vorbei sein?
Druck erzeugt Veränderung. Jede Menge Druck kommt aus China, nicht nur durch erschwingliche Elektroautos. Donald Trump wird als US-Präsident zusätzlichen Druck aufbauen. Es wird deutlich ungemütlicher werden. Aber das ist gut: Wenn es ungemütlich wird in Deutschland, haben wir das Geld, um daran etwas zu ändern. Die Erfahrung zeigt: Wenn was passieren muss – dann geht’s auch!

Markus Gürne ist Leiter der ARD-Börsenredaktion und Moderator der Sendung „Wirtschaft vor acht“. Er studierte Recht, Politik und allgemeine Rhetorik. Für die ARD war Gürne als Krisen-, Kriegs- und Auslandsreporter in Ägypten, im Irak und in Indien aktiv. Die ARD-Börsenredaktion leitet der 54-Jährige seit 2012.