Agiles Arbeiten – Die Zukunft oder schon längst zur Realität geworden?
03.08.2021 - Lesezeit: 9 Minuten
Mit der Pandemie hat das Thema agiles Arbeiten noch einmal eine ganz neue Wichtigkeit bekommen. Fast jeder musste sich an neue Arbeitssituationen anpassen. Plötzlich war das Home-Office die Norm. Im Gespräch mit Coach und Beraterin Kathrin Scheel spricht Katja Nieschulze, Abteilungsleiterin HR-Management bei der Berliner Volksbank, über die Zukunft der Agilität und warum es Inseln braucht, um Prozesse zu optimieren.
Frau Scheel, was haben Sie in den letzten Monaten, in denen die meisten Unternehmen auf komplett neue Strukturen umstellen mussten, besonders gemerkt?
Kathrin Scheel: Es gibt viele Parallelen zwischen der Arbeit im Home-Office und dem agilen Arbeiten, wie mehr Selbstorganisation und gegenseitiges Vertrauen. Allerdings habe ich in vielen Unternehmen ein fehlendes Mindset gespürt und gesehen, dass meist eine Firmenkultur fehlt, die eigentlich die Voraussetzung für agiles Arbeiten ist.
In hierarchisch organisierten Unternehmen fehlt es oft an Vertrauen und Flexibilität. Dabei ist Agilität vor allem eine Frage des Mindsets, nicht so sehr der Technik. So ist es vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht leichtgefallen, sich gut selbst zu organisieren.
Gleichzeitig ist die Meeting-Kultur immer noch ein gravierendes Thema. Meetings sind meist viel zu lang, zu häufig und führen zu unkonzentrierten Zuhörerinnen und Zuhörern, weil viele Ablenkungen möglich sind.
Wir alle haben in der neuen Art zu arbeiten viel gelernt, wurden aber auch ins kalte Wasser geworfen.
Kathrin Scheel ist Management Executive Coach (ECA), Lehrcoach und Lehrtrainerin ECA sowie Trainerin für Führung & Entwicklung. Sie blickt auf 30 Jahre Berufserfahrung, insbesondere in verschiedenen HR-Funktionen, zurück.
Heute arbeitet sie für namhafte mittelständische Unternehmen und Konzerne. Seit 2009 ist sie zudem Dozentin an mehreren deutschen Hochschulen und Universitäten.
Ist denn agiles Arbeiten immer noch eine Zukunftsvision oder schon längst angekommen?
Ich denke, dass viele sowieso agil arbeiten, ohne es in dem Sinne agil zu nennen und ich denke auch, dass man nicht drum herumkommt. Was im Moment passiert ist, dass jeder etwas anderes unter agilem Arbeiten versteht. Meistens ist das Verständnis von agilem Arbeiten sehr differenziert.
Für mich ist Agilität kein Wert an sich, sondern die Balance zwischen Stabilität und Flexibilität.
Kathrin Scheel
Wo kommt Agilität denn her?
Im Prinzip kommt Agilität aus dem IT-Bereich und ist entwickelt worden, um lange Abstimmungen mit Kundinnen und Kunden zu optimieren. Das heißt, dass man einen Prozess entwickelt hat, in dem man sich in kleinen Schritten und Produktentwicklungen bewegt, um nach und nach ein OK zu bekommen, bevor der nächste Schritt geschieht.
Was verstehen Unternehmen denn meistens unter Agilität?
Das Verständnis gegenüber Agilität ist unterschiedlich. Manche Unternehmen verstehen darunter die Einführung von agilen Methoden, also, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anfangen, Aufgaben individuell und selbstständig zu erledigen. Wobei es auch da ganz unterschiedliche Ansichten gibt.
Wenn ich Unternehmen frage, was sie darunter verstehen, Aufgaben selbst organisiert zu erledigen und, ob sie damit meinen, dass man Führungskräfte also nicht mehr braucht, dann bekomme ich meistens die gleiche Antwort: Nein, wir als Führungskraft wollen dabeibleiben, die Hierarchien sollen beibehalten werden.
Das bedeutet für mich, dass sie unter Agilität eher verstehen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Aufgaben selbst erledigen und sich mehr einbringen.
Wie gehen Sie also vor, wenn Unternehmen sich mehr Agilität wünschen?
Ich beginne immer damit, dass ich frage was die Unternehmen unter Agilität überhaupt verstehen und schaue mir im nächsten Schritt das ganze Unternehmen an. Man kann nicht nur an einer Stelle beginnen.
Agilität beginnt meistens bei den Menschen. Das heißt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen beginnen, selbstbestimmt zu arbeiten. Wenn dann jedoch alte Hierarchien beibehalten werden, dann funktioniert das Konzept der Agilität nicht. Selbst organisiert heißt eben selbst organisiert. Das heißt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst entscheiden. Wenn ich dann aber eine Hierarchie habe, die gewisse Entscheidungen beeinflusst, dann hebelt man das Konzept der Agilität wieder aus.
So etwas passiert oft in Unternehmen, die sich im Vorfeld keine Gedanken darüber machen, wie Agilität eigentlich funktioniert.
Welche Maßnahmen sind notwendig, um wirklich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an neue Umstände und Arbeitsbedingungen zu gewöhnen?
Das, was für alle Transformationsprozesse gilt, nämlich die Betroffenen zu Beteiligten machen. Das ist das A & O. Gleichzeitig muss man Hoffnungen und Befürchtungen aufgreifen und gemeinsam nach Lösungen suchen.
Wie sollte Agilität umgesetzt werden, damit sie funktioniert?
Viele Unternehmen arbeiten bereits in Hybridmodellen. Das heißt, dass anfangs abgeschätzt wird, in welchen Bereichen sich Agilität lohnt und, welche Bereiche gar nicht agil funktionieren können. Beispielsweise funktioniert in den meisten Unternehmen der Bereich des Controllings immer noch hierarchisch. Nicht, weil es besser ist, sondern, weil es so einfach am besten funktioniert. Meistens sind es jene Bereiche, die nicht viel Kreativität benötigen, sondern nach festen Abläufen funktionieren und eben auch eine gewisse Struktur benötigen.
Es gibt auch Negativbeispiele, in denen ganze Hierarchie-Ebenen weggefallen sind, nachdem agile Konzepte umgesetzt wurden. Dabei wurde einer Ebene die Entscheidungskraft genommen, weil ein ganzes Team selbst organisiert gearbeitet hat. Und das geht natürlich auch nicht. Man muss schon schauen, wie man Agilität so in ein Unternehmen integriert, dass niemand einen Nachteil davon hat, sondern sich ein positiveres Arbeitsambiente entwickelt.
Ist denn dieses Verständnis gegenüber Agilität schon in vielen Unternehmen angekommen?
Ich merke immer wieder, dass Unternehmen fast schon hyperaktiv handeln. Das heißt, dass sie einfach von jetzt auf gleich agile Konzepte im Unternehmen einführen, aber nicht an die Konsequenzen denken und auch nicht evaluieren, ob es sich überhaupt anbietet, agil zu arbeiten.
Expertinnen und Experten des Fraunhofer-Instituts sagten einmal "Das Erfolgsrezept agiler Arbeit ist der Verzicht auf zentrale Beherrschung und das Vertrauen in die spontane, dezentrale Selbstorganisation kompetenter und verantwortungsvoller Beschäftigter" – sehen Sie das auch so?
Ja, das stimmt. Aber damit allein ist es eben nicht getan. Ich brauche einen Blick auf das gesamte Unternehmen und muss hier schauen, welche Voraussetzungen agiles Arbeiten braucht.
Das Wozu, also der Sinn und Zweck des agilen Arbeitens muss klar sein. Und es muss eine klare Strategie geben, wie ich das Thema angehen will. Dann braucht es andere, nämlich nicht hierarchische, Strukturen, eine bestimmte Unternehmenskultur, ein Mindset und Klarheit über die Funktionen. Abläufe und Prozesse müssen angepasst werden und es braucht auch die entsprechenden materiellen Voraussetzungen.
Schnelle Prozesse sind ja besonders etwas in Start-ups. Ist denn agiles Arbeiten auch etwas für Traditionsunternehmen, in denen es viele Hierarchien gibt?
Für die meisten Menschen sind abrupte Veränderungen schwer zu handhaben.
Nein, Agilität ist nicht nur etwas für Start-ups. Konzerne sind längst dabei, Agilität einzuführen, in unterschiedlicher Art und Weise, z.B. durch agile Inseln. Viele Unternehmen arbeiten auch mit Hybridmodellen. Sie entscheiden für sich, in welchen Bereichen sie agil arbeiten wollen und wo ein anderes Arbeiten vielleicht auch sinnvoller ist.
Sie haben es schon gesagt, indem man es nicht abrupt macht, sondern Schritt für Schritt gemeinsam lernt. Genau das ist ja agiles Vorgehen: Man macht die ersten Schritte (zum Beispiel in einem Sprint) – reflektiert dann das Ergebnis und auch die Kultur der Zusammenarbeit, schaut dann nach den nächsten Schritten und geht diese.
Wie klappt das am besten?
Agilität funktioniert am besten, wenn man Menschen einbezieht. Das ist der beste Weg, um Vertrauen zu schaffen. Dann dauert es auch gar nicht so lange, Agilität herauszukitzeln. Es braucht eine Weg-Ziel-Stimmigkeit. Wenn ich ein agiles Mindset fördern will, dann kann ich da natürlich nicht den Weg wieder hierarchisch beschreiben und Prozesse von jetzt auf gleich einfach in das Unternehmen bringen.
Wenn ich allerdings Schritt für Schritt vorgehen und die einzelnen Prozesse beschreibe, dann klappt es sicherlich besser.
Was sind Ihre drei besten Tipps für Unternehmen, die sich mehr Agilität in ihrem Unternehmen wünschen?
Es braucht einen ganzheitlichen Blick auf das Unternehmen. Gleichzeitig müssen die Menschen einbezogen werden und letztendlich muss man mit Spaß und Freude an die Prozesse gehen.