"Ich bin hinter der Ladentheke groß geworden"

17.11.2023 - Lesezeit: 8 Minuten

Georg Kaiser und Carsten Jung
Georg Kaiser (links) und Carsten Jung (rechts)

Ende der 1990er-Jahre gab es – heute kaum zu fassen – noch keine Bio-Supermärkte in Berlin. Dann kam Georg Kaiser, der mit einer befreundeten Krankenschwester die erste Filiale der BIO COMPANY eröffnete. Mit Waren in gebrauchten Ikea-Möbeln und auf umgestülpten Brotkisten. Inzwischen gibt es mehr als 60 Märkte in Berlin, Brandenburg, Sachsen und Hamburg. Dazwischen liegt ganz viel, über das es sich mit Carsten Jung bei einem Glas Wostok-Limonade zu sprechen lohnt.

Carsten Jung: Herr Kaiser, welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in Ihrem Leben?

Georg Kaiser Für mich persönlich ist Nachhaltigkeit nicht einfach ein Werbebegriff. Wir leben Nachhaltigkeit seit unserer Gründung vor rund 24 Jahren. Wir richten unser Handeln danach aus. Ist man aus einem externen Impuls heraus nachhaltig, ist das etwas ganz anderes – ich fühle diesen Impuls von innen.

Wie übertragen Sie diesen Impuls auf Ihr unternehmerisches Handeln?

Der erste und auch wichtigste Anwendungspunkt für diese Werte ist das Bewerbungsgespräch. Knapp 80 Prozent unserer Bewerberinnen und Bewerber sind inzwischen Quereinsteiger. Wir müssen in erster Linie herausfinden: Passt er oder sie vom Charakter und vom Wertebild zu uns? Alles andere ist dann interne Weiterbildung und Management.

Der Umsatz ökologisch erzeugter Lebensmittel in Deutschland wuchs von 1997 bis 2021 von 1,5 Milliarden Euro auf 15,87 Milliarden Euro. Welche Geschichte verbinden Sie persönlich mit diesen Zahlen?

Georg Kaiser
Georg Kaiser

Im Prinzip ist das auch die Zeitspanne, in der die BIO COMPANY existiert. Meiner persönlichen Meinung nach haben wir – und viele andere Fachhändler – dieses Wachstum überhaupt möglich gemacht. Indem wir gezeigt haben, dass Bio kein Nischendasein fristen muss und dass man über moderne, offene Konzepte im Einzelhandel auch den Querschnitt der Bevölkerung erreichen kann. Das haben dann auch die konventionellen Händler bis hin zum Discounter mitbekommen. Und die sind dann, salopp formuliert, auf den Zug aufgesprungen.

Und wo lagen die Herausforderungen?

Ehrlich gesagt: Wir haben, historisch betrachtet, ein gutes Zeitfenster erwischt. Berlin ist die Basis unseres Erfolges – wir leben in einer sehr toleranten und neugierigen Stadt, die offen ist für neue Ideen und nachhaltiges Wirtschaften. Die Menschen hier nehmen es einem auch nicht gleich übel, sollte nicht von vornherein alles perfekt durchdacht sein. Wir sind gestartet mit Ikea-Möbeln und umgedrehten Brotkisten … Vielleicht ist auch nicht unerheblich, dass ich hinter der Ladentheke groß geworden bin – mit acht Jahren begannen der Kassendienst und Einräumarbeiten im Geschäft meiner Eltern. Der Lebensmittelhandel fließt durch meine Adern.

Lief von Beginn an alles unproblematisch?

GK Ich habe einen großartigen, funktionierenden Laden in Franken aufgegeben, um etwas Neues zu beginnen, und habe mich oft gefragt: »Was tue ich hier eigentlich?!« Erst als ich die Weddinger Hinterhofwohnungen verlassen konnte, die uns meine Schwiegermutter finanziert hatte, wurde ich ein bisschen ruhiger. Und als ich mir nach eineinhalb Jahren auch mal Gehalt auszahlen konnte.

Ihr Tipp für junge Unternehmer?

Ich glaube, die wichtigste Eigenschaft, die man braucht, um ein Unternehmen zu entwickeln, ist Offenheit. Man darf niemals glauben, schon alles zu wissen. Ein gut gemeinter Rat ist oft genau das: gut. Die eigene Intuition ist ebenso eine gute Beraterin. Ich habe »nur« eine Einzelkaufmannausbildung und den Handelsfachwirt. Das meiste ist intuitiv oder autodidaktisch passiert.

Biolebensmittel sind im Mainstream angekommen – konventionelle Supermärkte und selbst Discounter bieten immer mehr Bio an. War 2022 auch deshalb eines der schwierigsten Jahre für Ihre Branche?

Ich erlebe seit Jahrzehnten Zyklen. Als ich dem konventionellen Lebensmittelhandel in den 1990er-Jahren den Rücken gekehrt hatte, orientierten sich diese stark an Discountern. Dann kam der Zeitpunkt, an dem auch diese sogenannten »Vollsortimenter« wieder mehr auf die Qualität der Lebensmittel setzten. Angesichts der hohen Inflation achten die Verbraucher nun wieder auf den Preis. Auch wenn wir insgesamt ein höheres Preisniveau bei Lebensmitteln haben, ist das natürlich eine Gefahr für die Lebensmittelwirtschaft insgesamt. Meiner Meinung nach wird sich diese Wellenbewegung aber irgendwann wieder umkehren.

Haben Sie auch deshalb den Schritt gewagt, Ihre eigene Fleischproduktion aufzubauen?

Carsten Jung
Carsten Jung

Schon vor elf Jahren bestand die Gefahr, dass unser Fleischlieferant in der Region aus wirtschaftlichen Gründen verschwindet. Wir mussten uns dann innerhalb weniger Tage entscheiden: Übernehmen wir die Produktion oder beziehen wir unser Fleisch in Zukunft überregional? Letzteres wäre für unsere Landwirte ein Schlag ins Gesicht gewesen. Denn das zweite Versprechen, das wir unseren Kunden neben der Bioqualität geben, lautet: so regional wie möglich. Uns blieb also gar nichts anderes übrig. Heute ist die Fleischproduktion einer unserer erfolgreichsten Unternehmensbestandteile.

Erstaunlich, wo die Deutschen doch 2022 so wenig Fleisch gegessen haben wie seit über 30 Jahren nicht.

Richtig. Viele Verbraucher sagen aber auch: Wenn ich schon Fleisch esse, dann soll dieses nachhaltig, regional und tierwohlorientiert produziert sein. Das können wir bieten. Am stärksten wachsen wir bei der Fleisch- und Großproduktion in der Außerhausverpflegung – also bei Krankenhäusern, bei öffentlichen Einrichtungen, Schulen, Kitas oder Catering. Das, was wir in anderen Bereichen verlieren, können wir hier überkompensieren.

Wie sollte sich Ihrer Meinung nach die Lebensmittelproduktion und unser Essverhalten, mit dem Blick auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz, ändern?

Wenn es stimmt, dass 40 Prozent des Klimawandels mit der Ernährung zu tun haben, muss sich jeder Verbraucher fragen: »Was kann ich tun, um diese Zahl zu senken?« Ein Mensch, der Bio konsumiert, reduziert per se seinen CO2-Fußabdruck. Die düngemittelfreie Lebensmittelproduktion ist sehr viel klimaschonender.

Fleisch essen war lange Zeit ein Wohlstandsthema …

Früher hat man nicht jeden Tag Fleisch gegessen. Bei unseren Großeltern gab es den Sonntagsbraten – nicht mehr und nicht weniger. Da müssen wir eigentlich wieder hin.

2021 haben Sie das Unternehmen von einer GmbH in eine Societas Europaea (SE) umgewandelt und sind in den Aufsichtsrat gegangen, langjährige Mitarbeiter bilden den Vorstand. Zwei Jahre später: Wie fühlt es sich an, nicht mehr im operativen Geschäft tätig zu sein?

Ich kann mir wieder einen entspannteren Blick auf das eigene Unternehmen und auf den gesamten Geschäftsbereich leisten. Außerdem kann ich mich auf übergeordnete Nachhaltigkeitsthemen fokussieren, etwa im Bereich Verpackung. Wir leben in einer Plastikwelt. Mein Anspruch ist es, dass wir von dieser Verpackungssucht wieder runterkommen. Diese Themen erfordern viel Kraft – die kann man nicht nebenbei bearbeiten.

Seit Ende 2018 legt die BIO COMPANY Nachhaltigkeitsberichte vor. Hat das etwas in Ihrem Unternehmen bewirkt?

Zunächst einmal freue ich mich über eine neue EU-Richtlinie gegen das Greenwashing. Gegen Werbeversprechen mit wenig Substanz müssen wir kämpfen. Wir haben wahnsinnig viel Substanz, aber lange Zeit wenige Werbeversprechen abgegeben. Das hat sich geändert. Wir können inzwischen nach innen und außen sichtbar machen, was wir an Nachhaltigkeitsleistungen im Unternehmen erbringen. Ein Beispiel: Wir haben den Energieverbrauch pro Quadratmeter Ladenfläche um 40 Prozent reduziert.

Wo sehen Sie die BIO COMPANY in zehn Jahren?

Ich sehe uns weiterhin als den regionalen Biohändler mit Sitz in Berlin, der Steuern in Berlin bezahlt, und der sich für Vereine in der Stadt engagiert. Es wird noch einige Standorte geben und auch das Thema Lieferservice gehen wir an. Wir wollen aber auch verstärkt auf das kleine Haushaltseinkommen Rücksicht nehmen. Deswegen haben wir unsere Eigenmarke stark ausgebaut, die Produkte befinden sich auf einem Niveau mit Produkten im konventionellen Handel. So muss uns niemand bei bestimmten Artikeln fremdgehen.

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