Enertrag - Windwärme für ein ganzes Dorf
24.11.2022 - Lesezeit: 7 Minuten
Früher wollte Jörg Müller Kernkraftwerke bauen. Doch nach Tschernobyl dachte er um, setzte auf die Kraft von Wind und Sonne und gründete 1998 das Unternehmen Enertrag. Als kaum jemand an die Effizienz erneuerbarer Energien glaubte, baute Müller schon wegweisende Leuchtturmprojekte: Windenergiefelder, Wasserstoffpipelines, das weltweit erste Wasserstoff-Hybridkraftwerk – und einen Windwärmespeicher, der ein ganzes Dorf mit CO2-freier Wärme versorgt.
Nechlin hat 125 Einwohner, einen Gasthof und einen Radweg, der bis nach Usedom führt. Auf den Feldern am Ortsrand drehen sich träge die Rotoren der Windräder. Heute ist Solarwetter und das Dorf dämmert unter der heißen Mittagssonne. Gerade hat Russland den Gashahn noch ein bisschen weiter zugedreht. Die Nechliner nehmen es gelassen, denn ihre Wärmeversorgung für den Winter ist gesichert. Direkt vor der Tür, in einem haushohen grünen Zylinder.
Der Mann, der diesen Speicher gebaut und damit das Dorf in Sachen Wärme unabhängig gemacht hat, kommt einen kleinen Feldweg entlang. Jörg Müller ist Gründer und Aufsichtsratsvorsitzender der Enertrag AG. Der Kernphysiker hat sich früh auf erneuerbare Energien konzentriert und ein großes Wissen aufgebaut, das in Zeiten der Energiewende gefragt ist. Als er vor 30 Jahren anfing, war das noch ganz anders, wenige glaubten an Windkraft und Solarenergie. Zu teuer, zu kompliziert. Aber Müller hatte einen Plan. Er richtete sein erstes Büro zur Untermiete in einem Elektrobetrieb ein, stellte sein Notebook zwischen Röhrenradios und baute eine Windenergieanlage. 1995 waren es schon zehn Anlagen. 1996 folgte ein eigenes Stromnetz, 1998 gründete er Enertrag. Heute hat das Unternehmen mehr als 800 Mitarbeiter, baut Windenergieanlagen weltweit und realisiert vom Verbundkraftwerk bis zur Wasserstoffpipeline zahlreiche Leuchtturmprojekte für die Energiewende. „Die Voraussetzung, damit anzufangen, war das Wissen darüber, wie wir erneuerbare Energie speichern können. Früher hatten wir Kohlehalden, Ölbunker und Gasspeicher – jetzt haben wir Wasserstoffspeicher und Wärmespeicher“, sagt Müller.
Windkraft in Wärme umwandeln
So wie der Speicher am Rande von Nechlin, der mit seinen 18 Metern Durchmesser aussieht wie eine riesige grüne Tonne. Das Prinzip: Bläst der Wind kräftig, entstehen in den nahe stehenden Windenergieanlagen Produktionsspitzen. Dieser überschüssige Strom fließt durch ein 20.000-Volt-Kabel von den Windrädern direkt zum Speicher und heizt Wasser über einen Durchlauferhitzer auf 93 Grad. Dafür muss niemand irgendwo einen Knopf drücken. Sobald der Übertragungsnetzbetreiber ein Abschaltsignal gibt, schaltet sich ein von Enertrag entwickeltes Steuersystem automatisch ein. Eine Million Liter kann der dick isolierte Speicher aufnehmen, über Wochen warmhalten und nach Bedarf an das örtliche Nahwärmenetz abgeben.
„Nach diesem Modell könnten wir mit Windstrom im ganzen Nordosten Deutschlands heizen, hundert Prozent klimaneutral und günstig“, sagt Jörg Müller. Statt Windenergieanlagen bei Überproduktion abzuschalten, lassen sich Milliarden Kilowattstunden jährlich durch die Umwandlung des Stroms in Wärme (Power-to-Heat) nutzen – so wie es Nechlin im Kleinen vormacht. Das Projekt konnte Enertrag 2019 mit Hilfe des SINTEG Förderprogramms realisieren. Damit hatte das Bundeswirtschaftsministerium eine Ausnahmereglung geschaffen, um Speicherbetreiber von den Kosten der Erneuerbare-Energien-Umlage zu entlasten. Als das Programm Ende 2021 auslief, musste Nechlin wählen: den Windwärmespeicher abschaffen oder als Brennstoff Holzhackschnitzel einsetzen. „Ein teurer Widersinn, denn wir haben hier vor der Tür einen fast ständig verfügbaren Stromüberschuss der Windenergieanlagen“, sagt Jörg Müller. Die neue Bundesregierung schaffte die EEG-Umlage Mitte 2022 ab, seitdem sind Wirtschaftlichkeit und Sinn nach Nechlin zurückgekehrt.
Fahren und Fliegen mit Wasserstoff
Wenige Kilometer südlich von Nechlin liegt in Dauerthal die Zentrale von Enertrag. Offene Architektur, Pool-Arbeitsplätze und mitten drin eine streng abgeschirmte Leitwarte. Dort überwacht und steuert das Technikteam tausende Windenergieanlagen und Umspannwerke in Europa. Auf der Baustelle nebenan entsteht gerade eine weitere Planschmiede für Großprojekte, die das Unternehmen selbst oder mit Partnern durchführt, etwa der Bau einer Wasserstoffleitung, aus der sich große Industrieunternehmen den von Enertrag produzierten grünen Wasserstoff direkt nach Bedarf entnehmen können. In Planung ist außerdem ein Wasserstoff-Speicherkraftwerk am Industriepark Schwarze Pumpe in der Lausitz. Daneben forscht Enertrag an nachhaltigen Flugkraftstoffen und klimafreundlicher Zementproduktion, es hat eine Wasserstofftankstelle in Prenzlau gebaut und trägt dazu bei, dass die „Heidekrautbahn“ Berlin mit dem Umland im Nordosten emissionsfrei verbindet – angetrieben mit Wasserstoff. Für Müller ist es der elementare Energieträger der Zukunft für Haushalte, Industrie und Verkehr.
Gibt es genug Wasserstoff? Wenn wir beim Ausbau der Wind- und Solarenergie den Turbo anwerfen, sei ein Teil des erzeugten Stroms für die Wasserstofferzeugung übrig, antwortet Müller. Nutzbar ist es vor allem für den Transport, die Stahl- und die petrochemische Industrie. „Wir müssen nicht mehr zögern, denn erstmals haben wir eine Rechtslage, bei der die erforderlichen Zubauraten für Wind- und Photovoltaik korrekt sind“, so der Enertrag-Gründer. Mehr Ausbau schafft vollere Speicher, und wer weiß – vielleicht leisten uns ja noch die Nord Stream 2-Leitungen unerwartete Dienste für den Wasserstoffdurchfluss.
Wissenschaftliche Basis
Jörg Müller sieht das von ihm gegründete Unternehmen im Kern als Ingenieurbetrieb, das auf der unabhängigen Seite der Physik stehe. Die größte Ressource ist Wissen, das Enertrag jahrzehntelang aufgebaut und ausdifferenziert hat und das es heute zu den großen Playern der Energiewende macht. Als noch niemand davon redete, baute Enertrag ein Verbundkraftwerk mit einer Kombination aus Wind, Solar, etwas Biogas, Wasserstoff und einem Wärmespeicher. Damals war die alte Energiewelt für Müller schon aus der Zeit gefallen, allein aus Effizienzgründen. Denn zwei Drittel des Energieeinsatzes verschwinden in der Luft, rauschen durch Kühltürme, Auspuffe, Schornsteine. „Wir drehen das System um von 75 Prozent Verluste auf 75 Prozent Effizienz“, sagt er.
In den vergangenen Jahren hat der 58-Jährige sukzessive seine operative Verantwortung bei Enertrag abgegeben. Er wird sich zukünftig im Aufsichtsrat der strategischen Entwicklung sowie der politischen Begleitung der Energiewende in Verbänden und Gremien widmen. Was ihn auch weiterhin antreibt? „Erneuerbare Energien sind das größte Energiesparprojekt und aktiver Klima- und Naturschutz“, antwortet Jörg Müller. „Wenn wir es jetzt nicht schaffen, verlieren wir unsere Lebensgrundlage.“