Dr. Sigrid Nikutta, Chefin von DB Cargo, will mehr Güter auf die Schiene bringen
14.12.2021 - Lesezeit: 8 Minuten
Dr. Sigrid Nikutta steht seit Anfang 2020 der DB Cargo vor und hat das Ziel anvisiert, mehr Güter wieder auf die Schiene zu bringen. Sie ist eine Frau, die sich nicht schnell Bange machen lässt – das hat sie bereits als Vorstandsvorsitzende der Berliner Verkehrsbetriebe BVG bewiesen. Unter ihrer Führung erwirtschaftete das Unternehmen erstmals seit Jahrzehnten positive Ergebnisse. Wie der Turnaround für den Güterverkehr gelingen soll und wie wichtig Themen wie Digitalisierung und Chancengleichheit dabei sind, darüber spricht die 52-Jährige mit Carsten Jung, Vorstandsvorsitzender der Berliner Volksbank, in der 26. Etage des Bahntowers.
Carsten Jung: Frau Dr. Nikutta, gehen wir gleich in die Vollen: Erst die Berliner Verkehrsbetriebe, jetzt die defizitäre DB Cargo, Güterverkehr und Schiene. Woher kommt eigentlich Ihre Vorliebe für die harten Knochenjobs?
Dr. Sigrid Nikutta: Ich suche mir wirklich bewusst Jobs, die Großes bewirken können, wenn man sie erfolgreich macht. Die BVG war eine Herausforderung, und der Güterverkehr mit seiner schwierigen Geschichte ist noch herausfordernder. Zudem wissen wir, dass wir die Pariser Klimaschutzziele niemals erreichen können, wenn es uns nicht gelingt, den Güterverkehr auf die Schiene zu stellen. Ich habe großen Respekt vor dem Job. Aber ich denke, ich werde das schon machen.
CJ: Sie haben bereits angekündigt, das Güterverkehr-Unternehmen nicht gesundschrumpfen zu wollen, sondern setzen klar auf Wachstum. Also mehr Güter auf die Schiene. Über welche Stellhebel soll das funktionieren – bei der schwierigen Geschichte des Schienenverkehrs in Deutschland?
SN: Es ist eine Geschichte, die dazu führte, dass heute nur noch 18 Prozent aller Güter in Deutschland auf der Schiene transportiert werden. Das Ergebnis einer langen politischen Entwicklung. Wir erinnern uns daran, in Berlin war man in den 70er Jahren stolz, die autogerechte Stadt zu bauen. Autogerecht – und nicht menschengerecht und umweltgerecht. Der Verkehr auf der Schiene wurde immer mehr auf die Straßen verlagert. Außer Acht gelassen wurden auch die externen Kosten für Straßen, für die Umwelt und die Kosten von Unfällen. Wir werden dahin kommen, dass das umweltfreundlichste Verkehrsmittel auch das günstigste Verkehrsmittel ist. Deshalb ist die Strategie richtig, uns auf mehr Menge einzustellen. Das ist der unternehmerische Weg, den ich gehe. Und er wird funktionieren.
CJ: Wie wollen Sie für eine mittelständisch organisierte Wirtschaft in Deutschland eine flächendeckende Anbindung des Güterverkehrs an die Schiene sicherstellen?
SN: Es gab bereits früher eine gute Anbindung, die jedoch zurückgefahren wurde, das werden wir jetzt wieder ändern. Ich kann beispielsweise mit dem Lkw einen Container abholen und ihn dann mit dem Zug lange Strecken weiter transportieren. So ein Zug kann bis zu 52 Lkw ersetzen, und jede Tonne, die ich auf der Schiene transportiere, spart automatisch erhebliche Mengen CO2.
CJ: Welche Rolle spielt für DB Cargo die Digitalisierung dabei? Was müssen Sie noch anschieben? Es ist auch für uns ein Topthema.
SN: Genau wie für die Bank ist die Digitalisierung im Kontakt zum Kunden eine wichtige Aufgabe – und da sind wir sehr weit. Anders bei der technischen Digitalisierung. Ein Beispiel ist das Rangieren. Mittels digitaler automatischer Kupplung könnten sich Stromleitungen, Luftleitungen, Datenleitungen von Güterwagen automatisch verbinden. Doch wie vor 100 Jahren heben Rangierer noch heute einen 30 Kilo schweren Bügel über einen Haken eines anderen Güterwagens und verbinden manuell Luftleitungen. Richtig harte körperliche Arbeit, bei Tag und Nacht. Da gibt es noch viel zu tun.
CJ: Wie nehmen Sie denn Ihre Belegschaft mit? Nicht jeder ist ja für die Digitalisierung gemacht oder hat sogar Ängste.
SN: Deshalb mag ich den Begriff Digitalisierung auch nicht, denn er löst teilweise Ängste aus, nicht mehr mitzukommen. Als Sie sich ein Smartphone angeschafft haben, werden Sie nicht gedacht haben, jetzt digitalisiere ich meine Kommunikation, sondern weil es praktisch ist und weil es viele Funktionalitäten hat. Genauso machen wir es im Betrieb. Wir verbessern Prozesse Schritt für Schritt, weil uns das das Leben erleichtert, weil dadurch Dinge schneller und effizienter funktionieren.
CJ: Bei der Berliner Volksbank haben wir 50 Prozent Frauen im Vorstand – ohne Programm und ohne Quote. Wie diskutieren Sie bei DB Cargo das Thema Chancengleichheit in Chefetagen?
SN: Was wir systematisch aus dem Sprachgebrauch der Deutschen Bahn herausnehmen ist das Thema Frauenförderung. Das ist eines der Worte, auf die ich relativ allergisch reagiere, denn es ist nicht positiv besetzt. Erinnern wir uns an die Schule: Wer kriegt Förderunterricht? Jemand, der nicht dem Standard der Klasse entspricht. Und was ist Frauenförderung? Sollen die Frauen auf den Stand der Männer gebracht werden? Wir diskutieren stattdessen über Chancengleichheit, über gleiche Möglichkeiten für alle, unabhängig vom Geschlecht.
CJ: Wie schauen Sie selbst auf die Veränderungen der vergangenen 30 Jahre im Bereich Chancengleichheit? Wie weit sind wir gekommen, zum Beispiel Frauen in Top-Positionen zu bringen?
SN: Vor 30 Jahren war das Faxgerät eine technologische Innovation. Ich stand staunend davor und ließ es mir erklären. Es hat sich eigentlich alles geändert, bis auf eines: Vor 30 Jahren habe ich mir angehört: Aber Sie sind doch eine Frau. Und heute ist das immer noch in den Köpfen. Deshalb bin ich auch Mitglied in Netzwerken wie zum Beispiel „Generation CEO“, um mit Frauen, von denen viele jünger sind, zu diskutieren. Vielleicht kann ich auch als Role Model mit meiner Geschichte zeigen: Es geht, es geht alles, wenn ihr das möchtet! Lasst euch niemals sagen, dass irgendetwas zu schwer ist, zum Beispiel die Vereinbarkeit von Führungsjob und Familie. Möglich machen ist das Motto.
CJ: Ich bin froh, dass es bei uns als Berliner Volksbank keine Frage mehr ist, dass Kinder und Führungsjob zusammengehen. Unsere heutige Personalchefin war von Anfang an leitende Angestellte in Teilzeit und hat dann aufgestockt, als das Kind größer war.
SN: Gutes Beispiel! In anderen Bereichen müssen wir noch viel tun. Wie ist es zum Beispiel bei Ihrer Frau? Begleitet sie Sie auf Veranstaltungen als „die Frau von Carsten Jung“?
CJ: Ja, sie ist seit 20 Jahren selbstständig und trotzdem wird sie auf der Gästeliste teils als meine Begleitung geführt. Ihre Firma wird nicht genannt. Das ist nicht in Ordnung.
SN: Genau. Es ist das klassische Einsortieren. Wenn mein Mann gefragt wird, was er beruflich macht, antwortet er: Ich bin zu Hause und kümmere mich um die Kinder. Dann kommt die nächste Frage: Ja, und was machen Sie eigentlich? Diese Frage habe ich bei einer Frau so noch nicht gehört.
CJ: Mussten Sie eigentlich für berufliche Anerkennung mehr tun als männliche Kollegen?
SN: Ja, aber über diesen Punkt bin ich hinweg. Um jetzt zurückzukommen zu DB Cargo: Ich bin die erste Vorstandsvorsitzende in der Geschichte des Unternehmens. Die Kolleginnen und Kollegen kennen mich. Sie sagen: Okay, die Sache ist schwierig und es haben sich schon so viele Männer daran versucht. Aber sie wird es machen.
CJ: Sie haben einmal gesagt, Sigrid Nikutta, Sie möchten in den Geschichtsbüchern Ihrer Kinder stehen. Welche Überschrift hätte denn das Kapitel?
N: Wahrscheinlich sind es eher die Geschichtsbücher meiner Enkelkinder. Bei der Überschrift bin ich total unbescheiden. Wenn da steht: „Der Nikutta-Plan ist aufgegangen.“ Und dazu der Untertitel: „Gütertransportketten in Deutschland jetzt CO2-neutral durch die Schiene.“ Dann ist alles gut.