Hans-Joachim Schellnhuber: "Das wäre das Ende unserer Zivilisation"
02.05.2024 - Lesezeit: 8 Minuten
Wie können wir den globalen Temperaturanstieg aufhalten und teilweise sogar rückgängig machen? Hans Joachim Schellnhuber, Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, hat da einige – überraschende – Vorschläge.
Wenn es um Nachhaltigkeit geht, Herr Schellnhuber, zitieren Sie gerne einen Witz von Groucho Marx. Wie geht der?
Hans Joachim Schellnhuber: Nun, Groucho Marx von den legendären Marx Brothers hat sich einmal über den sogenannten Generationenvertrag wie folgt geäußert: „Warum sollte ich etwas für künftige Generationen tun – was haben sie denn jemals für mich getan?“
Brauchen Sie diesen Galgenhumor, wenn Sie auf an 2,7 Grad Erderwärmung am Ende dieses Jahrhunderts denken?
Das ist eigentlich schon ein optimistisches Szenario. Die Voraussetzung für die 2,7-Grad-Prognose ist, dass alle bereits existierenden Abkommen zum Klimaschutz zu 100 Prozent umgesetzt werden – und Sie wissen, dass in der Politik wenig komplett umgesetzt wird. Wenn wir nur die Hälfte oder ein Drittel hinbekommen, kann die Erderwärmung bis Ende des Jahrhunderts mehr als 3 Grad betragen. Emittieren wir weiter ungebremst Treibhausgase, könnten wir auf eine 4 oder 5 Grad wärmere Welt zusteuern. Das wäre nach meiner festen Überzeugung das Ende unserer Zivilisation.
Sie haben am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung einen Katalog von Kippelementen im Erdklimasystem entwickelt. Wir liegen bei 1,3 Grad Erwärmung, wie steht es aktuell um die Kipppunkte?
Kippelemente haben für die Lebensgrundlagen der Menschheit kritische Bedeutung. Unterhalb von 1,5 Grad Erderwärmung sind wir relativ sicher. Bereits heute kippen aber schon Teile des Westantarktischen Eisschildes. Die tropischen Korallenriffe inklusive des berühmten Great Barrier Reef werden wohl oberhalb von 1,5 Grad Erwärmung zu 90 oder mehr Prozent absterben. Der Grönländische Eisschild kippt vermutlich bei etwa 2 Grad, und im gleichen Temperaturbereich erwarten wir großflächiges Auftauen von Permafrostböden in Sibirien und Alaska.
Wie ergeht es Brandenburg und Berlin in diesen Szenarien?
Wenn schließlich auch der Ostantarktische Eisschild zu schmelzen beginnt, hätten wir über etliche Jahrhunderte einen Meeresspiegelanstieg von 60 oder mehr Metern. Fast ganz Potsdam und Berlin wären verschwunden. Teile unserer Erde würden buchstäblich unbewohnbar werden.
Was versäumt die Politik?
Sie glaubt immer noch, wenn wir alle gesellschaftlichen Gruppen, denen etwas zugemutet wird, weiter besänftigen, dann wird eben die nächste Regierung die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Doch ab und zu muss man sich zurücklehnen und sagen: Ich bin gewählt worden, um das Wohl des deutschen Volkes zu sichern und zu mehren. Wenn wir weiter ungebremst auf die Wand zufahren, habe ich meine politische Verantwortung nicht wahrgenommen.
Haben Sie Verständnis dafür, dass es jungen Leuten nicht schnell genug geht und sie sich auf der Straße festkleben?
Die jungen Leute sind oft erst 20 Jahre alt und mit unseren bedrückenden Forschungsergebnissen konfrontiert: Was bleibt einem da viel anderes übrig, als zivilen Ungehorsam zu leisten? So war das oft in der Geschichte von Bürgerbewegungen. Am Anfang wurde man bespuckt, getreten und verachtet. Ein Minimum an Verständnis muss man sich abringen, auch wenn die Aktionen unverhältnismäßig sind, die Forderungen ein wenig naiv und die Performance manchmal schlecht. Aber die Apokalypse wird eine noch viel schlechtere Performance auf die Bühne bringen.
Offenbar gibt es noch Raum für Lösungen. Bitte erzählen Sie uns von Ihrem Ansatz, die Klimaerwärmung zu stoppen.
Wir müssen einerseits ausschließlich Energie aus erneuerbaren Quellen einsetzen, um komplett klimaneutral zu wirtschaften. Und wir müssen zweitens historische Emissionen wieder aus der Atmosphäre entfernen. Beides geht auf natürliche Weise. Es gibt zwei starke Energiequellen, die uns die Natur umsonst und nebenwirkungsfrei anbietet. Das eine ist die Sonne, die unablässig eine gewaltige Kernfusion in Gang hält, deren Energie wir nur ernten, speichern und verteilen müssen. Das andere ist die Erdwärme.
Welche Technologie schlagen Sie vor, mit der wir CO2 aus der Atmosphäre entfernen können?
Um historische Emissionen wiedergutzumachen, gibt es ein natürliches und preiswertes Verfahren, genannt „Baum“. Die Photosynthese ist seit Milliarden Jahren die Grundlage für alles Leben. Sie verwandelt unseren Atmosphärenmüll CO2 in wertvolle Rohstoffe und lebensnotwendigen Sauerstoff. Wenn wir degradierte Flächen im großen Stil wieder aufforsten, nehmen die Bäume beim Wachstum große Mengen Kohlendioxid auf. Die Biomasse der Wälder wird dann nachhaltig geerntet und in gebaute Umwelt verwandelt. Indem ich immer mehr organische Masse in die Infrastrukturen und Städte bringe, pumpe ich immer mehr CO2 aus der Atmosphäre.
Warum ist es effizient, den Hebel bei der gebauten Umwelt anzusetzen?
Den größten Elefanten im Klimaraum habe auch ich jahrzehntelang nicht erkannt. Das Siedlungswesen verursacht fast 40 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen, die Hälfte davon entsteht bei der Herstellung und Verarbeitung der Baustoffe, etwa Zement und Stahl. Als Alternative können Sie ein Gebäude in Holz-Leichtbauweise aus vorfabrizierten Modulen errichten und in sechs Wochen montieren. Das Ergebnis ist, dass für jede Tonne Holz, die verbaut wird, vorher eine Tonne CO2 oder mehr aus der Atmosphäre entzogen wurde. In einem Gebäude ist der Kohlenstoff aus dem CO2 für Jahrhunderte fixiert. Mit einer globalen Holzbau-Offensive können wir also einen Beitrag dazu leisten, den Temperaturanstieg nicht nur zu bremsen, sondern ihn sogar zum Teil rückgängig zu machen!
Klingt zu einfach, um wahr zu werden.
Genau, die Suche nach dem Haken kommt sofort. „Holz brennt.“ „Der schöne Wald!“ „Das Ganze ist nicht stabil genug.“ „Was ist mit dem Schallschutz?“ Ich kenne mittlerweile alle möglichen und unmöglichen Einwände. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten können wir aber tatsächlich aus organischen Materialien erdbeben- und feuersicher, dazu stabiler, gesünder und schöner bauen als mit Stahlbeton, Glas und Aluminium. Und als „Nebeneffekt“ reinigen wir die Atmosphäre.
Das würde einen enormen wirtschaftlichen Umbau erfordern.
Das Handwerk wird sich freuen, aber gewiss nicht die Zementindustrie. Doch jede Wirtschaftsform wird irgendwann obsolet. Wenn wir den Wettbewerb in der Marktwirtschaft ernst nehmen, gehört dazu auch die kreative Zerstörung einer Branche, die nicht mehr zeitgemäß ist.
Wie wird das natürliche Immunsystem der Erde für uns arbeiten?
Der Baum ist seit über 400 Millionen Jahren ein extrem widerstandsfähiges und produktives Gebilde. Wenn wir uns die Weisheit der Evolution zunutze machen, dann fahren wir viel besser, als wenn wir auf primitive Weise versuchen, Dampfmaschinen oder Verbrennungsmotoren mit einem Wirkungsgrad von gerade mal 20 oder 30 Prozent zu bauen.
Welchen Beitrag können Banken leisten?
Handeln Sie auch nachhaltig, wenn es um Investitionsentscheidungen geht – auf der ganzen Skala vom Kleinkunden bis zum institutionellen Großanleger! Banken sollten etwa den Kunden, die bereit sind unsere Städte in Kohlenstoffsenken zu verwandeln, einen Vorteil einräumen. Dann sollte derjenige, der ein Wohnhaus, Gewerbegebäude oder Krankenhaus klimafreundlicher bauen will, gefördert werden.
Wie lassen sich Menschen motivieren, diesen Weg mitzugehen?
Manchmal muss man sagen: „Es reicht nicht, kleine Veränderungen vorzunehmen.“ Manchmal muss man tatsächlich Szenarien des Untergangs skizzieren. Ich gehe zu Veranstaltungen und sage: „Hört mal, wenn ihr so weitermacht, ist das Ende der Welt, wie wir sie kennen, nahe.“ Mein entscheidender Punkt ist natürlich der: Was kann ich tun, um nicht nur apokalyptische Stimmung, sondern Hoffnung zu erzeugen? Ich muss eine Lösung finden. Wenn man sie gefunden hat, muss man sie in eine gute Geschichte kleiden, in der die Menschen als Akteure vorkommen wollen. Die Bauwende ist eine solche Geschichte, die fast allen Menschen etwas geben kann.
Zur Person
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Joachim „John“ Schellnhuber gründete 1992 das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und hat unter anderem das Konzept der Kippelemente in die Klimaforschung eingebracht. Von 2009 bis 2016 war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Er ist langjähriges Mitglied des Weltklimarats IPCC. Schellnhuber ist Mitglied zahlreicher Gelehrtengesellschaften wie der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Nationalen Akademie Leopoldina und der US National Academy of Sciences. Er hat rund 300 wissenschaftliche Artikel und Bücher unter anderem in den Bereichen Grundlagenphysik, Analyse komplexer Systeme, Klimawandelforschung, Nachhaltigkeitswissenschaft veröffentlicht. Seit 2019 fokussiert Hans Joachim Schellnhuber seine wissenschaftliche Arbeit auf die Transformation der gebauten Umwelt und speziell auf das Klimasanierungspotenzial regenerativer Architektur. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Bauhaus Erde gGmbH.