„Warum finden wir keine Fachkräfte?“ ist die falsche Frage

07.04.2022 - Lesezeit: 5 Minuten

Büro mit leeren Arbeitsplätzen
© Adobe Stock

Wer Unternehmen fragt, womit sie stark zu kämpfen haben, erhält quer durch alle Branchen und Regionen dieselbe Antwort: „Wir kriegen einfach keine guten Leute!“ Der Fachkräftemangel ist eines der größten Probleme der deutschen Wirtschaft. Umso verblüffender, wie selten Unternehmen interessiert sind, dieses Problem zu lösen – mit einem Perspektivwechsel.

„Warum finden wir keine Fachkräfte?“ Wer das wirklich wissen will, sollte die Perspektive dieser Fachkräfte einnehmen. Die stellen nämlich eine ganz andere Frage: „Warum will ich bei diesem Unternehmen anfangen?“ 

In den Personalabteilungen hat sich herumgesprochen, worauf Bewerber:innen heute Wert legen. Da ein vernünftiges Gehalt als selbstverständlich gilt, wird das Betriebsklima immer wichtiger. Wie stark darf man sich als Mitarbeiter:in einbringen, wie rau ist der Ton untereinander, wird Wertschätzung gezeigt? Wie flexibel zeigt sich der Arbeitgeber bei den Arbeitszeiten, den Arbeitstagen, den Arbeitsorten (Homeoffice!)? Wie viel Freiräume gibt es bei den täglichen Aufgaben, wie sehen die Entwicklungschancen aus?

Niemand glaubt Stellenanzeigen

Wer Stellenanzeigen liest, darf sich gewiss sein: alles super, bei allen Arbeitgebern. Nicht immer entspricht das so ganz der Realität. Deswegen erkundigen sich Wechselwillige ebenso wie Berufsanfänger:innen lieber auf Plattformen wie Kununu, wie es denn wirklich aussieht. Zugegeben: Einiges an Kommentaren von aktuellen oder ehemaligen Mitarbeiter:innen dort ähnelt üblem Nachtreten, gleichwohl schält sich oft ein recht klares Bild des Unternehmensschiffs heraus – sozusagen aus dem Maschinenraum. Und dieses Bild hat oft wenig zu tun mit dem in den Stellenanzeigen versprochenen Sonnendeck. 

Zugegeben, das war schon immer so. Der Unterschied zu früher: Damals mussten Bewerber:innen sich damit arrangieren, dass sich der Arbeitsalltag deutlich trister gestaltete als versprochen. Heute verabschieden sich Mitarbeiter:innen umgehend – oder kommen erst gar nicht.

Unternehmen müssen sich bewerben

Was also tun? Als Arbeitgeber die Frage „Warum will ich bei diesem Unternehmen anfangen?“ ernst nehmen und ebenso ernsthaft nach überzeugenden Argumenten forschen. Das beginnt mit einer Nabelschau: Was macht uns attraktiv, worin sind wir gut? Können wir anbieten, wonach Bewerber:innen suchen?“ Vielerorts sind die Antworten allerdings ernüchternd. Nach dem Motto „Arbeit ist kein Wunschkonzert“ ist Präsenz weiterhin Pflicht, flexible Arbeitszeiten gelten als „neumodischer Kram“ und was die Chefs sagen, ist Gesetz. Hupps. Damit wäre die Frage beantwortet, warum dieses Unternehmen keine Fachkräfte findet. 

Brutal gesagt: Das Unternehmen muss sich bei den neuen Kolleg:innen bewerben, nicht umgekehrt. Und daher muss es sich an deren Erwartungen anpassen, sonst wird es ignoriert werden. Wer als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen werden will, muss sich verändern. Das ist anstrengend – und eine Chance, um Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und sich von überkommenen Routinen zu befreien.

Weil das so anstrengend ist, mutet kein Unternehmen sich freiwillig solch eine Sisyphos-Aufgabe zu. Doch um Freiwilligkeit geht es längst nicht mehr: Wer Traditionen aus dem 20. Jahrhundert in die Zukunft mitschleppen will, wird vergeblich um Fachkräfte buhlen. Unternehmen müssen sich einstellen auf die Erwartungen und Wünsche ihrer (künftigen) Mitarbeiter:innen, weil die sonst anderswo anheuern.

Der ehrliche Blick in den Spiegel

Nur Unternehmen mit motivierten Mitarbeiter:innen können die Zukunft gewinnen. Daher sollten Unternehmen die Ansprüche der potenziellen Bewerber:innen als Chance sehen. Wenn sie ihre Vakanzen füllen wollen, müssen sie sich ernsthaft fragen, wofür sie stehen, welche Werte sie vermitteln und wie sich außerhalb des Betriebsgelände wahrgenommen werden wollen.

So ermöglicht der Fachkräftemangel, das eigene Selbstverständnis zu erkunden – und daran zu wachsen. Das beginnt, wie gesagt, mit dem Blick in den Spiegel. Was läuft gut, was könnte besser laufen? Wo klaffen Anspruch und Realität auseinander? Inwieweit sind unsere Bekenntnisse zum agilen Arbeiten, divers zusammengesetzten Teams und flexiblen Arbeitszeiten bereits gelebte Realität? Welche Aufgaben sind inhaltlich besonders spannend? Wo wird Neuland betreten? Wer aufregende Projekte plant oder bereits gestartet hat, sollte sie über Social Media publik machen, damit die umworbenen Fachkräfte sehen: Hier passiert was – und es wäre aufregend, selbst dabei zu sein und das Ganze voranzutreiben.

Sichtbar werden, wo die Kandidat:innen sich aufhalten

Soll sagen: Unternehmen sollten nicht auf die Bewerbung warten, sondern im Interessenfeld der gesuchten Mitarbeiter:innen sichtbar werden – also über LinkedIn, Xing, Instagram und Facebook. Dazu kommt die Präsenz auf Karriere- und Businessnetzwerken und Messen, ein Angebot von Webinaren und Seminaren und alles, was sonst noch zeigt: Hier sitzt Expertise, hier ist’s interessant.

Denn eines ändert sich nicht, auch für das attraktivste Unternehmen der Welt: Wenn niemand weiß, wie toll das Arbeiten dort ist, wird sich niemand bewerben. Trommeln gehört also nach wie vor zum Handwerk.

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