„Jeder Einzelne muss sich aus seiner Komfortzone herauswagen“

20.06.2024 - Lesezeit: 8 Minuten

„Jeder Einzelne muss sich aus seiner Komfortzone herauswagen“
Joana Mallwitz

Joana Mallwitz ist Chefdirigentin und Künstlerische Leiterin im Konzerthaus Berlin – ein energiegeladenes und mutiges Orchester, offen für Experimente und mit ausgesprochen hohem Qualitätsanspruch. Carsten Jung, Vorstandsvorsitzender der Berliner Volksbank, trifft die 37-Jährige auf ein Glas Tee.

Können Sie sich an den ersten Ton erinnern, den Sie in Berlin wahrgenommen haben, Frau Mallwitz?

Joana Mallwitz: In Berlin klingt alles gleichzeitig. Auf engstem Raum treffen größtmögliche Kontraste aufeinander. Deshalb würde ich meinen ersten Eindruck von Berlin als eine Art von Komposition beschreiben – ähnlich wie Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“. Diese Kunst von Strawinsky, viele verschiedene Ebenen gleichzeitig ablaufen zu lassen, die als Ganzes eine besondere Energie und einen Wiedererkennungswert haben – diese unfassbare Energie spüre ich auch in dieser Stadt. Ich bin sehr glücklich, nun ein kleiner Teil davon sein zu dürfen.

Gab es zu Beginn etwas, das Sie im Konzerthaus verändern wollen?

Für mich war der Wille, etwas zu verändern, nicht wesentlich. Im Gegenteil. Ich hatte von Beginn an das Gefühl: Hier gibt es genau die richtige Energie, das richtige Team und die richtige Arbeitsweise. Die Linie des Konzerthauses und das Profil dieses Orchesters haben sich über die letzten Jahre in die Richtung entwickelt, in die auch ich gehen möchte. Wir passen zusammen, wollen diesen Weg gemeinsam konsequent weitergehen – und schöne Dinge erreichen.

Sie haben das Orchester bei Ihrem Antritt als sehr mutig beschrieben. Was meinten Sie damit?

Wir sind Teil einer sich wandelnden Gesellschaft und müssen uns stetig fragen, welchen Platz wir als Konzerthaus in dieser Welt haben. Es ist wichtig, neu zu denken, Experimente zu wagen, andere Konzertformate zu finden – ohne den außerordentlich hohen Qualitätsanspruch aus den Augen zu verlieren. Das ist gar nicht so einfach, weil jeder Einzelne sich dafür aus seiner Komfortzone herauswagen muss. Nur wenn wir uns das trauen, entsteht etwas Aufregendes, etwas Neues. Genau diesen Geist spüre ich hier im Orchester.

Wo sehen Sie die Rolle von sich und dem Konzerthaus in unserer Gesellschaft?

Joana Mallwitz
Joana Mallwitz

Eine Funktion der Konzert- und Kulturlandschaft ist es, die Gesellschaft zu vereinen. Wir bilden eine Gemeinschaft und das heißt auch, dass jedes Individuum unserer Gesellschaft ein Teil davon sein muss, wenn es möchte. Niemand darf sich ausgeschlossen fühlen, zum Beispiel dadurch, dass die Karten zu teuer sind. Es muss beides geben, Gala-Tickets und kostengünstige Stehplätze. Ebenso ist es unsere Aufgabe, auf Menschen zuzugehen, die Berührungsängste gegenüber klassischer Orchestermusik haben. Man braucht keine Vorkenntnisse. Bei einem Rock- oder Popkonzert denkt auch niemand darüber nach, ob man jetzt genug über diese Musik weiß oder nicht.

Wie arbeiten Sie dagegen?

Ich sehe es als meine Aufgabe an, Kinder und Jugendliche für unsere Musik zu begeistern. Junge Menschen sollen erleben, dass Kontrabässe richtig rocken können. Sie sollen fühlen, wie die Energie eines Orchesters das Publikum am Schluss zum Toben bringen kann. Wer so etwas in jungen Jahren kennenlernt, der erinnert sich wieder daran, sobald die Karriere in trockenen Tüchern oder die Kinder aus dem Haus sind – und man wieder Zeit hat für Abo-Konzerte um 20 Uhr.

Sehen Sie in unserer modernen Gesellschaft trotzdem Anzeichen dafür, dass Live-Musik irgendwann überflüssig wird? Durch KI zum Beispiel?

Einige Tätigkeiten können vielleicht ersetzt werden, aber die Musik wird immer echt bleiben. Es ist dieses Echte, das unsere Musiker und Musikerinnen transportieren und das Menschen mitten ins Herz trifft. Das gemeinsame Erlebnis. Selbst Fehler schaffen Momente, in denen man körperlich spürt, dass das Publikum diese Authentizität entdeckt. Konzerte laufen nicht nach einer vorgefertigten Schablone ab – Menschen erzählen anderen Menschen über die Kunst, über ein Gedicht, ein Lied, einen Ton, über andere Menschen. Das ist es, was uns alle am Ende berührt.

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Wie kommunizieren Sie mit ihrem Orchester?

Das Dirigieren ist wohl die unmittelbarste Form der Kommunikation.

Und das funktioniert nur mit einer strengen hierarchischen Ordnung?

Orchester sind hierarchisch funktionierende Organismen. Wenn die 88 Mitglieder ein Programm von zwei Stunden in zwei Tagen auf die Beine stellen wollen, kann das ohne hierarchische Strukturen nicht funktionieren. Bei mir laufen die Fäden zusammen. Ich habe die Verantwortung dafür, analytisch zu hören und zu erkennen, warum zum Beispiel dieser eine Takt noch nicht sitzt.

Was bedeutet für Sie Führung?

Carsten Jung
Carsten Jung

Meine Aufgabe hier am Konzerthaus-Orchester ist es auch, die Qualität des Orchesters zu halten und zu verbessern. Dazu gehören die Fragen, welche Stücke ich gezielt ins Repertoire nehme, das ich mit den Kolleginnen und Kollegen erarbeite. Dazu muss ich jedes Orchestermitglied mit seinen Fähigkeiten und Eigenschaften gut kennen. Worauf es dabei ankommt, ist Kommunikation. Dirigieren ist Kommunikation, aber natürlich führe ich auch viele Gespräche und beobachte sehr genau die langfristige Entwicklung meiner Kolleginnen und Kollegen. Genauso wichtig sind mir aber Authentizität und ein gleichbleibend hoher Anspruch an mich selbst und jeden einzelnen im Orchester.

Wie finden Sie in einem solch engmaschigen Konstrukt Nachwuchs?

Das ist ein sehr komplexes Thema in der Musikwelt. Um Teil eines Orchesters wie das im Konzerthaus zu werden, muss man in der Regel sehr früh anfangen. Das heißt, die Frühförderung und musikalische Früherziehung sind enorm wichtig. Wir haben viele Musiker im Orchester, die unterrichten. Trotzdem liegt die Verantwortung vor allem in den Schulen, bei den Musiklehrern. Sie müssen deutlich mehr Unterstützung erfahren.

Das Konzerthausorchester verfügt außerdem über eine eigene Akademie.

Wenn jemand über das entsprechende Talent verfügt, dient unsere Arbeit an der Orchesterakademie als Verbindungsstück zwischen jenem talentierten Musikstudenten und unseren Orchestermusikern. Die Akademiemitglieder spielen Proben und Aufführungen, gehen mit auf Konzertreisen oder wirken bei Medienproduktionen mit. Ein Orchestermitglied ist jeweils Pate oder Patin.

Werden die Akademiemitglieder nach ihrer Ausbildung automatisch zu Orchester-Mitgliedern?

Am Ende müssen die Musiker immer vorspielen. Unser Solo-Schlagzeuger war vor einigen Jahren Mitglied der Orchesterakademie und hat bei einem solchen Vorspiel die Probespielstelle gewonnen. Es ist wunderbar, wenn das so aufgeht. Genauso schön ist es aber, wenn wir sehen, dass unsere ausgebildeten Leute gute Stellen in anderen Orchestern bekommen. Denn natürlich ist nicht immer genau die passende Stelle frei. Und auch wenn sie das wäre, ist ein Vorspiel Grundvoraussetzung. Das heißt: Die Bewerberin oder der Bewerber sitzen hinter einem Vorhang, unser Orchester davor. Es geht allein um Talent und Technik, nicht um persönliche Eindrücke, die darüber hinaus gehen.

Schauen wir nochmal auf Ihre neue Heimat: Betrachten Sie die Diversität der Kulturszene in Berlin als einen Treiber für die wirtschaftliche Attraktivität der Stadt?

So etwas wie hier in Berlin, gibt es nirgendwo auf der Welt. Betrachtet man nur einen einzigen Abend, kann man sich vor exzellenten Angeboten kaum retten, und gleichzeitig sind die Säle voll. Das heißt ja, nichts davon ist überflüssig. Der Durst der Menschen nach dem gemeinsamen Erlebnis ist riesig. Und die Energie dieser Kultureinrichtungen potenziert sich gegenseitig. Man inspiriert sich gegenseitig, man puscht sich gegenseitig. Das ist ein einzigartiges Klima. Berlin – diese Stadt brodelt.

Zur Person

Joana Mallwitz
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