„Bildung ist eine strategische Notwendigkeit“
03.06.2025 - Lesezeit: 11 Minuten

Mit welchen Ideen lässt sich die Hauptstadtregion zum Bildungsstandort der Zukunft transformieren? Ein Austausch zwischen Carsten Jung, Vorstandsvorsitzender der Berliner Volksbank, und Sebastian Stietzel, Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Berlin.
Bereits mit 16 Jahren haben Sie, Herr Stietzel, ein Unternehmen gegründet. Welche Rolle spielt Bildung für Sie?
Bildung ist der Rohstoff für Wertschöpfung und Innovationen. Meine Neugier und das damit verbundene Selbststudium haben mich schon als Jugendlicher zum Unternehmer gemacht und jede darauffolgende Unternehmensgründung ausgelöst und angetrieben. Regelmäßige Weiterbildung ist aus meiner Sicht der Schlüssel für nachhaltigen Erfolg.
Welche Herausforderungen sehen Sie für die Qualität der Bildung?
Gerade in einer eher Dienstleistungs- und innovationsgeprägten Wirtschaft wie in Berlin ist eine qualitativ hochwertige Ausbildung und regelmäßige Weiterbildung essenziell für die Standortentwicklung. Doch die Ergebnisse der Leistungsstanderhebungen sind nicht nur besorgniserregend, sondern aus meiner Sicht schlichtweg dramatisch. Immer mehr Schülerinnen und Schüler schaffen nicht einmal die Mindestanforderungen beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Das muss sich dringend ändern. Sicher, angesichts von Lehrermangel und Haushaltslage wird das nicht einfach. Aber es führt kein Weg daran vorbei, mit gezielten Maßnahmen das Bildungsniveau in der Hauptstadt zu heben. Dazu gehört zum Beispiel auch die Digitalisierung der Schulen und Lernangebote. Ich bin sehr froh, dass wir mit der aktuellen Bildungssenatorin endlich jemanden haben, der diese Missstände nicht kleinredet, sondern aktiv bekämpft.
Viele Firmen möchten mehr ausbilden, erhalten jedoch kaum Bewerbungen. Was ist der Schlüssel, um junge Menschen für eine Ausbildung zu begeistern?
Viele Jugendliche wissen gar nicht, welche Ausbildungsberufe es gibt und wie viele berufliche Perspektiven sich durch eine Ausbildung eröffnen. Wir haben allein im Bereich der IHK mehr als 200 unterschiedliche Ausbildungsberufe. Eine frühzeitige, praxisbetonte Berufsorientierung während der Schulzeit ist zwingend notwendig, dazu gehören vor allem regelmäßige Praktika oder Schnuppertage in Unternehmen. Wir sehen bei unserem Projekt „Praktikumswoche“ den positiven Klebe-Effekt, den selbst Schnupperpraktika haben: Gekommen als Praktikantin, geblieben als Auszubildende. Die Unternehmen selbst müssen natürlich für sich selbst die Werbetrommel rühren – und zwar da, wo die Jugendlichen sind: auf den Social-Media-Kanälen, aber auch in den Schulen selbst, beispielsweise über Schulpatenschaften.
Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang die duale Ausbildung? Wird in unserer Region genug in dieses Modell investiert?
Die duale Ausbildung ist ein Erfolgsmodell, um das uns viele Länder beneiden. Das heißt nicht, dass man das Modell nicht verbessern kann und aus meiner Sicht auch verbessern sollte. Die duale Ausbildung muss sich an Veränderungen in der Arbeitswelt und an betriebliche Bedarfe anpassen können. Innovationen in der beruflichen Bildung und beispielsweise eine Flexibilisierung der Ausbildung können maßgeblich dazu beitragen, das Modell insgesamt zukunftsfähiger und attraktiver für Jugendliche und für potenzielle Ausbildungsbetriebe zu gestalten. In Berlin wie auch in anderen Ballungszentren kommen dann noch Themen wie bezahlbarer Wohnraum oder preiswerte ÖPNV-Tickets dazu. Da brauchen wir definitiv mehr Angebote.
Berlin verfügt über eine exzellente Hochschul- und Wissenschaftslandschaft. Wie können wir den Transfer von Hochschulwissen in praktische Wertschöpfung forcieren?
Das ist ein absolut zentrales Thema für die Zukunftsfähigkeit Berlins. Ein starker Wirtschaftsstandort braucht starke Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis, die in beide Richtungen gut ausgebaut sind.
Inwiefern verstärken die aktuellen Defizite in der Berliner Bildungslandschaft den Fachkräftemangel in der Hauptstadt?
Die Defizite tragen natürlich zur Verschärfung des Fachkräftemangels bei. Viele Jugendliche sind am Ende der Schulzeit nicht ausreichend auf den Arbeitsmarkt vorbereitet. Mangelnde Berufsorientierung und fehlende Basiskompetenzen spielen eine große Rolle. Dazu kommen die 2.000 Schülerinnen und Schüler, die jedes Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen. Sie alle treffen auf eine Arbeitswelt, die von Technisierung und Digitalisierung durchdrungen ist. Teile der Politik fordern in dem Zusammenhang immer gerne, Unternehmen müssten auch schwächeren Jugendlichen eine Chance geben. Das tun die Unternehmen längst – und organisieren auf eigene Kosten Nachhilfe- oder Mentoringprogramme.
Wie wichtig sind Investitionen in Bildung – gerade in Zeiten knapper Kassen?
Investitionen in Bildung sind essenziell. Sie sind eine Zukunftsinvestition, die sowohl Fachkräfte sichert als auch die Innovationsfähigkeit des Standorts stärkt. Bildung ist schlichtweg eine absolut strategische Notwendigkeit. Natürlich kosten Digitalisierung und Schulneubauten viel Geld. Aber Berlin gehört auch zu den Spitzenreitern, was die Pro-Kopf-Ausgaben in der Bildung betrifft. Die Frage muss also sein, wie wir am effizientesten in unsere Bildungszukunft investieren.

Carsten Jung und Sebastian Stietzel im Gespräch
Lebenslanges Lernen wird immer bedeutsamer. Wie können Unternehmen sicherstellen, dass ihre Mitarbeiter*innen kontinuierlich die nötigen Qualifikationen erwerben?
Weiterbildung ist in der Tat ein eminent wichtiges Thema für die Wirtschaft. Berufsbilder und Tätigkeiten ändern sich in einem rasanten Tempo. Wir raten Unternehmen, durch passgenaue Lernstrategien, regelmäßige Kompetenzanalysen und die Förderung einer Lernkultur sicherzustellen, dass die Beschäftigten kontinuierlich Qualifikationen erwerben. Dazu gehören digitale Lernangebote ebenso wie individuell zugeschnittene Weiterbildungen. Hilfreich ist dabei oft der Austausch mit anderen Unternehmen.
Wie bewerten Sie die Chancengleichheit im Berliner Bildungssystem? Haben alle Kinder und Jugendlichen die gleichen Möglichkeiten, erfolgreich zu sein?
Die Chancengleichheit im Bildungssystem hängt leider immer noch sehr vom Elternhaus ab. Studien zeigen, dass Schulen deshalb längst nicht mehr nur Bildungsorte sind, sondern Betreuungs- und Entwicklungsaufgaben eine immer größere Rolle spielen, um allen Kindern gleiche Startbedingungen zu ermöglichen. Ausreichend Kitaplätze in den Außenbezirken sowie eine qualifizierte Betreuung in den Tagesrandzeiten, gut ausgestattete Schulen, individuelle Unterstützung und die sichere Vermittlung der Basiskompetenzen sind entscheidend, damit Kinder und Jugendliche erfolgreich in ihre berufliche und gesellschaftliche Zukunft starten können.
Zum Abschluss: Sie haben einen Wunsch für die zukünftige Entwicklung der Bildung in Berlin frei – was würden Sie sofort verändern?
Angesichts der Lage reicht ein Wunsch leider nicht. Zunächst einmal wünsche ich mir, dass die Bildungssenatorin mutig den eingeschlagenen Weg weitergeht. Also: Konzentration auf die Vermittlung von Kernkompetenzen und eine fundierte Berufsorientierung an den Schulen. Dann wünsche ich mir und dem Wirtschaftsstandort, dass sich der Senat in diesem Jahr von der geplanten und absolut unsinnigen Ausbildungsumlage verabschiedet. Diese Umlage ist untauglich, schafft ein bürokratisches Monster und droht zum Risikofaktor für den Wirtschaftsstandort zu werden. Vielmehr sollte die Energie und Kreativität darauf verwandt werden, Berlin zum Bildungsstandort der Zukunft zu transformieren.

Sebastian Stietzel, 45, ist seit 2022 Präsident der Industrie- und Handelskammer Berlin. Er ist Geschäftsführer der Mittelstandsbeteiligungsgesellschaft Marktflagge sowie Vorstands- und Aufsichtsratsmitglied verschiedener börsennotierter Gesellschaften. Stietzel ist Mitglied des Präsidiums der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) und sitzt im Aufsichtsrat der Berlin Partner für Wirtschaft & Technologie GmbH sowie der Tegel Projekt GmbH / Urban Tech Republic.