„Kunststrom“ aus dem E-Werk Luckenwalde

15.08.2024 - Lesezeit: 5 Minuten

„Kunststrom“ aus dem E-Werk Luckenwalde
Helen Turner und Pablo Wendel

Ein Zentrum für zeitgenössische Kunst, das sich selbst finanziert? Pablo Wendel und Helen Turner erwecken ein altes Braunkohlekraftwerk in Brandenburg zu neuem Leben. Heute produziert das E-Werk Luckenwalde „Kunststrom“ – kreative Energie, die jeder kaufen kann.

Pablo Wendel und Helen Turner haben das E-Werk Luckenwalde aus einem 30-jährigen Dornröschenschlaf geweckt, um es als eine Art Gesamtkunstwerk wiederzubeleben. Es ist die weltweit erste Kultureinrichtung, die sich mit „Kunststrom“ selbst versorgt und teilweise auch finanziert. Das hat seine Geschichte.

„Mein Heureka-Moment kam vor rund zehn Jahren“, erinnert sich Pablo Wendel. Damals war er als Performance- und Installationskünstler bereits international bekannt. Den Durchbruch brachte ihm eine weltweit beachtete Aktion: 2006 mischte er sich als „tönerner Krieger“ in die streng bewachte Terrakottaarmee im chinesischen Xi’an und wurde von den Wachen erstaunlich lange nicht bemerkt. Trotz des Ruhms verdiente er als Künstler nicht genug, um seine Stromrechnung zu bezahlen – und fasste den Entschluss, Kunst- und Stromproduktion zusammenzubringen. „Das ist eine ganz neue Form von Energie: das ist Kunststrom!“

„Kunststrom“ beziehen, Kunst und Kultur fördern

Damals gründete Pablo Wendel „Kunststrom“ als gemeinnützigen Energieversorger auf Basis erneuerbarer Energien. Seine Idee: „Gewinne in neue Kunst und Kulturprojekte stecken.“ Wer „Kunststrom“ bezieht, fördert so Kunst und Kultur. Die Suche nach einem Ort dafür führte Wendel von Stuttgart in die ehemalige Industriestadt Luckenwalde. Beim alten Kohlekraftwerk sprang sofort der Funke über. „Ich war wie elektrisiert“, erinnert er sich. „,Kunststrom‘ und das leerstehende Braunkohlekraftwerk als Energiestätte – das passte wie die Faust aufs Auge.“ Die Idee ließ ihn nicht mehr los. „Meine Vision war, das E-Werk zum ,Kunststrom‘-Produktionsort zu machen. Aber auch zum Ort, an dem Kunst produziert und gezeigt werden kann. Ein öffentlicher Ort der Begegnung.“

Pablo Wendel
Pablo Wendel

Pablo Wendel kratzte sein Erspartes zusammen. 2017 kaufte er das Gebäude, inklusive der erhaltenen Produktionsanlagen. Lokale Handwerker, freiwillige Helfer aus aller Welt und engagierte Luckenwalder packten mit an. Mit ihrer Hilfe rüstete er das Kohle- zum nachhaltigen „Kunststrom“-Kraftwerk um. Die alte Fördertechnik blieb so weit wie möglich erhalten, doch statt Kohle transportiert die Anlage jetzt ratternd Holzhackschnitzel aus heimischen Fichtenwäldern und Industrieabfälle. Im Blockheizkraftwerk wird die im Pyrolyseverfahren vergaste Biomasse umweltschonend in Wärme und Elektrizität umgewandelt. Die CO2-Bilanz des „Kunststroms“: negativ.

Erneuerbare Energien für Luckenwalde

Der „Kunststrom“ versorgt inzwischen nicht nur das E-Werk selbst mit Elektrizität und Wärme, sondern wird über eine Kooperation mit dem Ökostromanbieter Bürgerwerke auch in das öffentliche Netz eingespeist. „Ich werde oft gefragt: Ist das, was du hier machst, überhaupt Kunst?“, sagt Pablo Wendel, der im E-Werk ständig mit Werkzeug in der Hand unterwegs ist, denn auf vier Stockwerken und dem 10.000 Quadratmeter großen Grundstück gibt es immer was zu reparieren, installieren oder montieren. „Ich möchte es so ausdrücken: Mein Atelier hat sich in den öffentlichen Raum verlagert. Durch die Adern des öffentlichen Netzes pulsiert jetzt ,Kunststrom‘ in homöopathischer Dosis.“ 

Wo fängt so ein Kunstwerk an? Wo hört es auf? Was passiert beim Endkunden, wenn er den Strom aus der Steckdose bezieht? Betrachtet er Energie anders? Das sind Fragen, die Pablo Wendel beschäftigen, seit er sein Projekt betreibt. „Kunst bewegt sich plötzlich an einem ganzen anderen Ort.“

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Kreative Energie im E-Werk

Helen Turner
Helen Turner

Auch neue Kunstprojekte, Denkansätze und junge Künstler werden über das E-Werk unterstützt. Teils über die „Kunststrom“-Einnahmen, größtenteils allerdings noch über Fördermittel. Darum kümmert sich Helen Turner, Künstlerische Leiterin und Kuratorin des E-Werks Luckenwalde mit ihrem internationalen Team. 2017 zog sie aus London in die 20.000-Seelen-Stadt rund 50 Kilometer südlich von Berlin. „Unser Ziel ist es, ein prototypisches Pioniermodell dafür auf den Weg zu bringen, wie kulturelle Einrichtungen in Zukunft aussehen könnten“, erläutert Helen Turner. Gelingt das Experiment, könnten auch andere Kulturinstitutionen und damit die Kunst unabhängiger vom Markt und von staatlicher Förderung werden. „Das wäre ein radikales, völlig neues ökonomisches und ökologisches Modell für den Kulturbereich.“

Im avantgardistischen Ambiente des E-Werk Luckenwalde kommen Menschen unterschiedlichster Couleur zusammen. Ein Beispiel: Zur Eröffnung des E-Werks erarbeitete die Künstlerin Nina Beier zusammen mit Ringern des 1. Luckenwalder Sportclubs und des RSV Hansa 90 aus Frankfurt/Oder eine Performance. „Das funktionierte großartig“, erzählt Helen Turner. „Man konnte die Energie im Raum förmlich spüren.“ 

Von „Kunststrom“ existieren kann das E-Werk Luckenwalde noch nicht. Auch wenn es das erklärte Ziel von Pablo Wendel und Helen Turner ist, sich irgendwann zu 100 Prozent darüber zu finanzieren. „Dann sprechen wir allerdings nicht mehr von aktuell 70 Kunden, sondern von Zehntausenden“, sagt Wendel und schraubt dabei an einem der vielen Rohre im künstlerisch rot beleuchteten Maschinenraum. Eine weitere wichtige Erfahrung: „Wenn wir es schaffen, hier mit viel Engagement, Sponsoring und gemeinsamem Anpacken ein Kraftwerk CO2-neutral umzubauen und damit nicht nur uns selbst, sondern auch andere zu versorgen, dann muss es auch im großen gesellschaftlichen Zusammenhang gehen.“ Diesen Beweis haben die beiden angetreten. „Und das macht Mut.“

Bilder: Marcel Schwickerath und Stefan Korte

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